Fast fünf Stunden dauerte das Spektakel, und wer dabei sein durfte, wird es sein Leben lang nicht mehr vergessen: "Saint François d'Assise" des französischen Komponisten Olivier Messiaen (1908-1992). Mit gut vier Jahren Verspätung (Corona-bedingt!) stand dieses fast fünfstündige Opus jetzt endlich auf dem Spielplan. Und auch wenn es als Oper in drei Akten und acht Bildern konzipiert ist, so ist es doch weniger eine solche als vielmehr ein musikalisches Event der Extraklasse. Es erzählt vom Leben und Glaubenssätzen des Heiligen Franziskus (1181-1226), der im 13. Jahrhundert den Orden der Franziskaner-Mönche begründet hat und auch am der Gründung der "Klarissen" mit beteiligt war. Er hatte ein Herz für die Armen und lebte selbst in größter Bescheidenheit und Demut. Legendär ist auch seine Liebe zur Natur und vor allem zur Vogelwelt.
In Auftrag gegeben wurden die "Franziskus-Szenen", wie Messiaen sein Werk untertitelte, von Rolf Liebermann (1910-1999) während dessen Intendanz an der Pariser Oper (1973 bis 1980), wo er – ebenso wie zur Zeit seiner Hamburger Intendanz (1959-1973 und 1985-1988) – mehreren zeitgenössischen Komponisiten Auftragswerke verschaffte. Kent Nagano (geb. 1951) und seit 2015 Hamburgs Generalmusikdirektor, war damals Assistent von Messiaen und bereitete die Uraufführung 1983 mit vor. Schon deshalb war er der ideale Dirigent für dieses Riesenwerk – niemand kennt es so gut wie er.
Schon wegen der Fülle der beteiligten Musiker kann "Saint François d'Assise" nicht in einem normalen Opernhaus aufgeführt werden. In Hamburg waren über 300 Mitwirkende beteiligt: neben den neun Gesangssolisten (darunter nur eine Frau als Engel) das gesamte Philharmonische Staatsorchester mit 120 Musikerinnen und Musiker beteiligt, sowie ein großer Chor (die Audi Jugendchorakademie und das Vokalensemble LauschWerk) und die Kinder- und Erwachsenen-Komparserie der Staatsoper Hamburg. Wo also, wenn nicht in der Elbphilharmonie mit ihrem Weinberg-Konzertsaal, könnte so ein voluminöses Werk aufgeführt werden? Genau dort gehört es hin, in diesen Saal mit seiner Großzügigkeit und filigranen Akustik. Aufgrund des mit jeder Vorstellung verbundenen riesigen Aufwands wurde es jedoch nur dreimal aufgeführt.
Sänger wie Musiker vollbrachten an diesem Abend eine Glanzleistung – Kent Nagano, die umfangreiche Partitur auf dem Pult vor sich, hatte allesamt perfekt im Griff, nie ließ seine Konzentration nach, und auch die Musikerinnen und Musiker sowie der Chor folgten bis zum sich ins Unendliche steigernden Forte am Schluss jeder auch noch so kleinen Geste und agierten mit höchster Präzision. Schon das war eine fulminante Leistung.
Den optischen Rahmen hatte Georges Delnon entworfen, der 2015 mit Nagano als Intendant an die Hamburgische Staatsoper kam. Er ließ direkt über der Bühne eine Plattform bauen, die über zwei Laufstege zugänglich war. Jacques Imbrailo, der den Part des Franziskus übernahm, steht somit stets im Mittelpunkt (und hat dort freundlicherweise auch ein iPad mit den Noten und Texten zur Verfügung – anders wäre diese Riesenpartie vermutlich auch kaum zu stemmen). Das ist ebenso schlicht wie gekonnt zugleich. Auch dass er den Engel (mit warmer Klangfülle intoniert von Anna Pohaska) ganz in weiß gekleidet mit Glitzerapplikationen von verschiedenen Rängen und später auf einer kleinen Plattform mit einem silbernen Band als Sicherungs-Begrenzung in neun Meter Höhe singen ließ, war ein gelungener Einfall.
Weniger stimmig, um nicht zu sagen: überflüssig waren jedoch die Filme, die ebenso wie die Übersetzung der französisch gesungenen Texte auf eine ringförmige Leinwand projiziert wurden. Die Filme befassten sich mit Themen, die den Heiligen Franziskus zeitlebens beschäftigten: Armut, Bescheidenheit, Einsatz für die Bedürftigen, Liebe zur Natur, Mitgefühl. Delnon hatte dafür Video-Sequenzen drehen lassen: Da begleitet er zum einen einen Hamburger Obdachlosen zu einem Dusch-Bus und unterstützt das Hamburger Straßenmagazin Hinz und Kunzt, über dessen Verkauf Menschen, die in Hamburg auf der Straße leben, sich ein Zubrot verdienen. Zum anderen besucht er Mojib Latif, den Präsidenten des Helmholtz-Zentrums für Ozeanforschung in Kiel und Päsidenten des Club of Rome Deutschland und der Akademie der Wissenschaften in Hamburg – womit er das Thema Klimawandel und die damit verbundenen Umweltprobleme in den Mittelpunkt stellt. Man sieht Latif in seinem Büro oder durch Feld und Flur wandelnd, man sieht durch Windbruch zerstörte Wälder und andere Bilder mehr. Des Weiteren begleitet Delnon mit der Kamera die "Seawatch 5" im Mittelmeer, die sich als Seenotrettungsboot um Flüchtlinge kümmert, die dort in Seenot geraten, und ebenso einen Franziskaner-Mönch auf eine Elbinsel, eine Musikerin in die Probenräume der Staatsoper zu Proben oder Kent Nagano in sein Büro sowie eine Sterbebegleiterin in das Hospiz im Helenenstift in Hamburg.
Das ist alles sicher gut gemeint, wirkt aber - vor allem im Zusammenhang mit den Texten - doch etwas aufdringlich und oberlehrerhaft, teilweise auch geschmäcklerisch. Schließlich wissen wir alle um die dort angesprochenen Probleme, und sicher erwachen in jedem von uns beim Lesen der Texte und ebenso beim Hören der eindringlichen Musik eigene Bilder und Vorstellungswelten, die die Aussagen des Heiligen Franziskus in der Gegenwart spiegeln. Es hätte der Belehrung durch Georges Delnon in Form der meist in Schwarz-Weiß gedrehten Videos dafür nicht bedurft. Dass sich nach der zweiten Pause die Reihen doch merklich gelichtet hatten, ist vielleicht auch auf diesen Umstand zurückzuführen, dass man genervt war von so viel optischer Überbeanspruchung. Stellenweise huscht dazu noch ein in einen quietschgrünen Regenumhang gehülltes Kind mit einer Stirnleuchte durch die Ränge oder sitzt, eine Weltkugel umarmend, am Bühnenrand – auch das ein reichlich überflüssiges Beiwerk.
Letztlich konnten diese Details den Gesamteindruck jedoch nicht schmälern (man konnte immer wieder auch einfach nur die Augen schließen, um die aufdringlichen Bilder auszublenden). Es war ein grandioser Abend, der noch lange nachwirken wird und mit dem sich Kent Nagano ein für allemal ein Denkmal in der Hamburger Musikwelt gesetzt hat.