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Fulminantes Spektakel

Dovlet Nurgeldiyev als Frère Massée, Jacques Imbrailo als St. François, Foto: Bernd Uhlig
Kartal Karagedik als Frère Léon, Anthony Gregory als Le Lépreux, Jacques Imbrailo als St. François, David Minseok Kang als Frère Bernard, Audi Jugendchorakademie, Vokalensemble Lauschwerk, Philharmonisches Staatsorchester Hamburg, Foto: Bernd Uhlig
Anna Pohaska als L'Ange, Foto: Bernd Uhlig
Anthony Gregory als Le Lépreux, Jacques Imbrailo als St. François, Audi Jugendchorakademie, Vokalensemble LauschWerk, Foto: Bernd Uhlig
Jacques Imbrailo als St. François, Anna Prohaska als L'Ange, Foto: Bernd Uhlig
Jacques Imbrailo als St. François, David Minseok Kang als Frère Bernard, Florian Eggers als Frère Sylvestre, Niklas Mallmann als Fère Rufin, Audi Jugendchorakademie, Vokalensemble LauschWerk, Philharmonisches Staatsorchester Hamburg, Foto: Bernd Uhlig
Anna Prohaska als L'Ange, Kent Nagano, Philharmonisches Staatsorchester Hamburg, Foto: Bernd Uhlig

Fast fünf Stunden dauerte das Spektakel, und wer dabei sein durfte, wird es sein Leben lang nicht mehr vergessen: "Saint François d'Assise" des französischen Komponisten Olivier Messiaen (1908-1992). Mit gut vier Jahren Verspätung (Corona-bedingt!) stand dieses fast fünfstündige Opus jetzt endlich auf dem Spielplan. Und auch wenn es als Oper in drei Akten und acht Bildern konzipiert ist, so ist es doch weniger eine solche als vielmehr ein musikalisches Event der Extraklasse. Es erzählt vom Leben und Glaubenssätzen des Heiligen Franziskus (1181-1226), der im 13. Jahrhundert den Orden der Franziskaner-Mönche begründet hat und auch am der Gründung der "Klarissen" mit beteiligt war. Er hatte ein Herz für die Armen und lebte selbst in größter Bescheidenheit und Demut. Legendär ist auch seine Liebe zur Natur und vor allem zur Vogelwelt.

In Auftrag gegeben wurden die "Franziskus-Szenen", wie Messiaen sein Werk untertitelte, von Rolf Liebermann (1910-1999) während dessen Intendanz an der Pariser Oper (1973 bis 1980), wo er – ebenso wie zur Zeit seiner Hamburger Intendanz (1959-1973 und 1985-1988) – mehreren zeitgenössischen Komponisiten Auftragswerke verschaffte. Kent Nagano (geb. 1951) und seit 2015 Hamburgs Generalmusikdirektor, war damals Assistent von Messiaen und bereitete die Uraufführung 1983 mit vor. Schon deshalb war er der ideale Dirigent für dieses Riesenwerk – niemand kennt es so gut wie er.

Schon wegen der Fülle der beteiligten Musiker kann "Saint François d'Assise" nicht in einem normalen Opernhaus aufgeführt werden. In Hamburg waren über 300 Mitwirkende beteiligt: neben den neun Gesangssolisten (darunter nur eine Frau als Engel) das gesamte Philharmonische Staatsorchester mit 120 Musikerinnen und Musiker beteiligt, sowie ein großer Chor (die Audi Jugendchorakademie und das Vokalensemble LauschWerk) und die Kinder- und Erwachsenen-Komparserie der Staatsoper Hamburg. Wo also, wenn nicht in der Elbphilharmonie mit ihrem Weinberg-Konzertsaal, könnte so ein voluminöses Werk aufgeführt werden? Genau dort gehört es hin, in diesen Saal mit seiner Großzügigkeit und filigranen Akustik. Aufgrund des mit jeder Vorstellung verbundenen riesigen Aufwands wurde es jedoch nur dreimal aufgeführt.

Sänger wie Musiker vollbrachten an diesem Abend eine Glanzleistung – Kent Nagano, die umfangreiche Partitur auf dem Pult vor sich, hatte allesamt perfekt im Griff, nie ließ seine Konzentration nach, und auch die Musikerinnen und Musiker sowie der Chor folgten bis zum sich ins Unendliche steigernden Forte am Schluss jeder auch noch so kleinen Geste und agierten mit höchster Präzision. Schon das war eine fulminante Leistung.

Den optischen Rahmen hatte Georges Delnon entworfen, der 2015 mit Nagano als Intendant an die Hamburgische Staatsoper kam. Er ließ direkt über der Bühne eine Plattform bauen, die über zwei Laufstege zugänglich war. Jacques Imbrailo, der den Part des Franziskus übernahm, steht somit stets im Mittelpunkt (und hat dort freundlicherweise auch ein iPad mit den Noten und Texten zur Verfügung – anders wäre diese Riesenpartie vermutlich auch kaum zu stemmen). Das ist ebenso schlicht wie gekonnt zugleich. Auch dass er den Engel (mit warmer Klangfülle intoniert von Anna Pohaska) ganz in weiß gekleidet mit Glitzerapplikationen von verschiedenen Rängen und später auf einer kleinen Plattform mit einem silbernen Band als Sicherungs-Begrenzung in neun Meter Höhe singen ließ, war ein gelungener Einfall.

Weniger stimmig, um nicht zu sagen: überflüssig waren jedoch die Filme, die ebenso wie die Übersetzung der französisch gesungenen Texte auf eine ringförmige Leinwand projiziert wurden. Die Filme befassten sich mit Themen, die den Heiligen Franziskus zeitlebens beschäftigten: Armut, Bescheidenheit, Einsatz für die Bedürftigen, Liebe zur Natur, Mitgefühl. Delnon hatte dafür Video-Sequenzen drehen lassen: Da begleitet er zum einen einen Hamburger Obdachlosen zu einem Dusch-Bus und unterstützt das Hamburger Straßenmagazin Hinz und Kunzt, über dessen Verkauf Menschen, die in Hamburg auf der Straße leben, sich ein Zubrot verdienen. Zum anderen besucht er Mojib Latif, den Präsidenten des Helmholtz-Zentrums für Ozeanforschung in Kiel und Päsidenten des Club of Rome Deutschland und der Akademie der Wissenschaften in Hamburg – womit er das Thema Klimawandel und die damit verbundenen Umweltprobleme in den Mittelpunkt stellt. Man sieht Latif in seinem Büro oder durch Feld und Flur wandelnd, man sieht durch Windbruch zerstörte Wälder und andere Bilder mehr. Des Weiteren begleitet Delnon mit der Kamera die "Seawatch 5" im Mittelmeer, die sich als Seenotrettungsboot um Flüchtlinge kümmert, die dort in Seenot geraten, und ebenso einen Franziskaner-Mönch auf eine Elbinsel, eine Musikerin in die Probenräume der Staatsoper zu Proben oder Kent Nagano in sein Büro sowie eine Sterbebegleiterin in das Hospiz im Helenenstift in Hamburg.

Das ist alles sicher gut gemeint, wirkt aber - vor allem im Zusammenhang mit den Texten - doch etwas aufdringlich und oberlehrerhaft, teilweise auch geschmäcklerisch. Schließlich wissen wir alle um die dort angesprochenen Probleme, und sicher erwachen in jedem von uns beim Lesen der Texte und ebenso beim Hören der eindringlichen Musik eigene Bilder und Vorstellungswelten, die die Aussagen des Heiligen Franziskus in der Gegenwart spiegeln. Es hätte der Belehrung durch Georges Delnon in Form der meist in Schwarz-Weiß gedrehten Videos dafür nicht bedurft. Dass sich nach der zweiten Pause die Reihen doch merklich gelichtet hatten, ist vielleicht auch auf diesen Umstand zurückzuführen, dass man genervt war von so viel optischer Überbeanspruchung. Stellenweise huscht dazu noch ein in einen quietschgrünen Regenumhang gehülltes Kind mit einer Stirnleuchte durch die Ränge oder sitzt, eine Weltkugel umarmend, am Bühnenrand – auch das ein reichlich überflüssiges Beiwerk.

Letztlich konnten diese Details den Gesamteindruck jedoch nicht schmälern (man konnte immer wieder auch einfach nur die Augen schließen, um die aufdringlichen Bilder auszublenden). Es war ein grandioser Abend, der noch lange nachwirken wird und mit dem sich Kent Nagano ein für allemal ein Denkmal in der Hamburger Musikwelt gesetzt hat.

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Eine ganze Menge Leben

(c) AlamodeFilm
(c) AlamodeFilm
(c) AlamodeFilm

Mathieu, geschätzte Ende 40, ist ein höchst erfolgreicher Pariser Schauspieler, ein Star. Von heute auf morgen schmeißt er jedoch alles hin, sagt die lange geplante Premiere ab und zieht sich für eine Woche in ein Wellness-Hotel an der bretonischen Küste zurück. In der Einsamkeit außerhalb der Saison will er sich überlegen, was er wirklich will, wie seine Zukunft aussehen soll. Denn so, wie er bisher gelebt hat, ergibt es für ihn keinen Sinn mehr. Midlifecrisis nennt man das. Seine Lebensgefährtin, eine bekannte Nachrichtensprecherin, kann mit seinen Selbstzweifeln wenig anfangen, unterstützt ihn aber in seinem Rückzug und baut darauf, dass sich alles schon wieder irgendwie einrenken wird.  

Im Hotel erreicht Mathieu eine Nachricht von Alice – sie lebt ganz in der Nähe und hat erfahren, dass er sich dort aufhält. Vor 16 Jahren hatten sie beide eine Liebesbeziehung, die Mathieu jedoch abrupt beendet hat. Alice fiel in ein tiefes Loch, zog sich aufs Land zurück, gab ihre Karriere als Pianistin auf, heiratete einen Arzt und bekam eine Tochter. Seither ist sie als Klavierlehrerin tätig. Jetzt fragt sie Mathieu, ob sie sich nicht mal treffen sollten. Mathieu willigt ein. 

Und so reflektieren beide noch einmal ihre Begegnung vor dem Hintergrund ihres Lebens. Sie spüren noch eine Verbindung, sie haben noch nicht abgeschlossen. Alice zeigt ihre Verletztheit, Mathieu seine Ratlosigkeit. Sie finden sich in ihrer wechselseitigen Einsamkeit. Und gehen um viele Erfahrungen reicher in die Zukunft. 

"Zwischen uns das Leben" ist ein wunderbarer, zärtlicher Film mit großartigen Darstellern: Guillaume Canet als Mathieu in seiner Hilflosigkeit, seiner Orientierungslosigkeit, seiner Unsicherheit und seinen Selbstzweifeln. Noch berührender Alba Rohrwacher als Alice - verletzlich und stark zugleich, mit einer fluiden Transparenz und ungeschminkten Aufrichtigkeit. Gerade damit vermag sie Mathieu eine neue Orientierung zu geben und erhält umgekehrt von ihm die Wertschätzung, die sie so lange entbehrt hat. Ob und wie es mit den beiden nach diesen wenigen Tagen weitergeht, sei hier nicht verraten. 

Regisseur Stéphane Brizé erzählt hier "die Geschichte von zwei Menschen, die sich nicht streiten, die ein wenig erschöpft sind von den Jahren, die hinter ihnen liegen, und die nicht versuchen, einander zu verführen", sagt er in einem im Presseheft zum Film abgedruckten Interview. "Zwei Menschen, die nicht versucht haben, einander zu finden, die sich freuen, einander wiederzusehen, weil sich die Gelegenheit zufällig ergeben hat, die keinen Hass gegeneinander hegen." Der Zuschauer erfahre etwas über den Schmerz der beiden, ohne dass sie ihn sich gegenseitig zeigen. Es ist "ein Film über eine Geschichte, die zu einem Ende kommt. Keine Geschichte, die neu startet in einem Moment im Leben, in dem man sein Schutzschild ablegt. Ein Moment, in dem wir lieber ein schlechtes Gewissen riskieren würden als uns selbst davon abzuhalten, etwas zu sagen oder zu tun. Ein Moment im Leben, in dem ein Mann und eine Frau Platz für das Wesentliche machen müssen. Zwei Menschen, die sich endlich die Wahrheit sagen. Um zu bleiben, wie sie waren ... aber auch, um ein bisschen besser zu werden." 

Ein wunderbarer, sehr berührender Film. 

 

"Zwischen uns das Leben"
Regie: Stéphane Brizé
Drehbuch: Stéphane Brizé, Marie Drucker
Kamera: Sidonie Dumas
115 Minuten 
ab 1. Mai 2024 in den Kinos

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Nie den Mut verlieren

Michelle Bastien-Archer mit ihren beiden Kindern Paul und Kaylea Scott. (c) Across Nations
Hin und wieder kann Michelle mit ihrem Mann telefonieren – er muss dafür ein R-Gespräch aus dem Knast heraus beantragen, das natürlich mitgehört und aufgezeichnet wird. (c) Across Nations
Das Tor zum Sing-Sing-Gefängnis in der Nähe von New York. In großen Abständen können die Frauen mit ihren Männern ein Wochenende in einem Wohnwagen verbringen – kostbare Zeit der Zweisamkeit unter strikt beschränkten Bedingungen. (c) Across Nations
Michelle beteiligt sich an Protestmärschen gegen das marode Justizsystem und an den Demonstrationen von "Black Lives Matter". (c) Across Nations
Das zermürbende stundenlange Warten auf einen Anruf aus dem Gefängnis, während der Antrag auf Haftentlassung auf Bewährung verhandelt wird. (c) Across Nations
Der letzte "Junggesellinnen-Abschied", den Frauen von inhaftierten Männern feiern, wenn diese entlassen werden. Michelle ist die letzte unter ihren Freundinnen, die dieses Glück erlebt. (c) Across Nations

Es ist kein Geheimnis, dass in den USA viele Menschen, vor allem Schwarze, zu Unrecht im Gefängnis sitzen – oder zumindest keinen fairen Prozess bekommen. "Black Lives Matter" war nicht ohne Grund eine Antwort auch auf diesen Missstand. Jetzt kommt ein Dokumentarfilm in die Kinos, der sich mit diesem Thema beschäftigt. Über fast zehn Jahre hinweg hat Regisseurin Nele Dehnenkamp Michelle Bastien-Archer begleitet, deren Mann Jermaine Archer eine 22-jährige Haftstrafe in berüchtigtem Sing-Sing-Gefängnis in der Nähe von New York verbüßt. Ein Mord wurde ihm angelastet, aber es gibt massive Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Urteils. Die Beweislage war mehr als dürftig, und in der Zwischenzeit sind neue Beweisstücke aufgetaucht, die weitere Zweifel an seiner Schuld nähren und das Urteil in Frage stellen. 

"For the time being" beschreibt ebenso spannend wie bewegend, wie es sich anfühlt, einem Mann in dieser Situation nicht nur die Treue zu halten und eine Beziehung über kurze R-Gespräche und die wenigen Wochenend-Besuche in vom Gefängnis gestellten Wohnwagen zu pflegen, sondern auch nie den Mut zu verlieren, dass Jermaine vielleicht doch auf Bewährung vorzeitig entlassen wird. 

Die Regisseurin Nele Dehnenkamp sagt zu den Beweggründen für diesen Film, der in enger Zusammenarbeit mit Michelle Bastien-Archer entstanden ist: "Im Rahmen meines Soziologie-Studiums habe ich einen längeren Auslandsaufenthalt in den USA absolviert. Die Thematik der 'Masseninhaftierung' war damals sehr präsent in der öffentlichen Debatte. Man beschäftigte sich damit, wie durch Strafen und Gefängnisse die Ungleichheit in der Gesellschaft aufrechterhalten wird. Doch diese Diskussion hatte vor allem eine männliche Perspektive. Mich interessierte: Was macht es mit den zurückgebliebenen Frauen? Wie erleben Frauen und ihre Kinder die Haftstrafe ihres Partners und Vaters? Als ich dann als Gaststudentin ein Uni-Seminar zum Dokumentarfilm besuchte, war die Idee für den Film geboren." Der Film ist nun ihr Abschlussfilm im Rahmen ihres Regie-Studiums an der Filmakademie Baden-Württemberg. 

Und Michelle Bastien-Archer ergänzt aus ihrer Sicht: "Ich wollte auf das Schicksal von Frauen wie mir aufmerksam machen. Mir ist es wichtig zu zeigen, wie eine Haftstrafe das Leben der betroffenen Familien beeinflusst. Einen inhaftierten Partner zu haben, ist eine große Belastung. Und die wenigsten Menschen wissen das. Im Gegenteil: Sie haben Vorurteile gegenüber Frauen, die mit einem Mann im Gefängnis zusammen sind. Mit diesem Vorurteil wollte ich aufräumen." 

In Deutschland wird der Film u.a. auch in einzelnen Justizvollzugsanstalten gezeigt werden, um mit Betroffenen ins Gespräch zu kommen. Ebenso wurde ein Bildungspaket erstellt, das auch im Schulbereich eingesetzt werden kann. 

Wenn man an diesem Film etwas kritisieren kann, dann höchstens das, dass man relativ wenig über die Fakten erfährt, die zur Verurteilung von Jermaine geführt haben. Inzwischen, so viel wird im Presseheft mitgeteilt, wurde die Bewährung aufgehoben und er ist wieder ein freier Mann, der sich auch beruflich für eine Reform des Justizsystems einsetzt. Er und Michelle arbeiten weiterhin daran, seine Unschuld zu beweisen. Das letzte Wort dazu ist noch nicht gesprochen. 

 

For the time being
90 Minuten, Englisch mit deutschen Untertiteln 
Buch, Regie, Montage, Bildgestaltung: Nele Dehnenkamp
Produktion: Nele Dehnenkamp, Christine Duttlinger
www.forthetimebeing.de

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Die Weisheit langen Lebens

Fünf Frauen, fünfhundert Jahre Leben.
Die indische Yogalehrerin V. Nanammal
V. Nanammal unterrichtete täglich 100 Schülerinnen und Schüler in der Kunst des Yoga.
Die Diplomatin Tamar Eshel baute den Staat Israel mit auf und ermöglichte unzähligen europäischen Juden die Einreise nach Palästina.
Tamar Eshel erhielt für ihre Arbeit hohe Auszeichnungen des Staates Israel und war u.a. Beraterin des Bürgermeisters von Jerusalem.
Nermin Abadan Unat lehrte viele Jahre an der Universität in Istanbul und ist eine glühende Anhängerin von Kemal Atatürk.
Die Schriftstellerin Inge Helbich begann im Alter von 57 Jahren nach ihrer Scheidung noch einmal ein ganz neues Leben.
Haydée Arteaga Rojas war in Kuba eine weithin bekannte Erzählerin.

Seit 7. März ist ein Film in den Kinos, der einen das Staunen lehren kann. Er dokumentiert fünf hundertjährige Frauen aus Kuba, Israel, Österreich, Indien und der Türkei. Sie haben ganz unterschiedliche Leben gelebt und doch vieles gemeinsam. Vor allem den Glauben an sich selbst, an den eigenen Willen, die Kraft, Widerstände überwinden zu können, und seien sie noch so groß. 

Da ist die Diplomatin Tamar Eshel aus Israel (1920-2022), die Mitglied der Haganah war und die Auswanderung europäischer Juden nach Palästina organisierte. Später war sie u.a. im israelischen Außenministerium und der UN tätig, sie war Vorsitzende des Israel Council of Women's Organisations sowie der zionistischen Frauenorganisation Na'amat, sie war Mitglied der Knesset und Ehrenbürgerin Jerusalems. 

Da ist die Geschichtenerzählerin Haydée Arteaga Rojas aus Kuba (1915-2020), die sich schon früh für Solidarität und Gleichberechtigung einsetzte und zeitlebens eine Anhängerin eines freien Kubas und Fidel Castros. Ihre Arbeit als Schriftstellerin und Erzählerin war in Kuba hoch anerkannt und respektiert. 

Da ist die Yogalehrerin V. Nanammal aus Indien (1920-2019), die in 45 Jahren insgesamt eine Million Menschen Yoga beibrachte. 600 ihrer Schüler sind heute Yogalehrer in aller Welt. 2016 erhielt sie eine hohe zivile Auszeichnung und war in Indien sehr bekannt. 

Da ist die Schriftstellerin Ilse Helbich aus Österreich (1924-2024), die für den österreichischen Rundfunk Drehbüher und Radiobeiträge verfasste. Nach ihrer Scheidung von dem Rechtsanwalt und späteren Generalsekretär der österreichischen Industriellenvereinigung Franz Helbich (1924-2012), mit dem sie fünf Kinder hatte, im Jahr 1981 ging sie noch einmal ganz neue Wege. 

Da ist die Juristin, Soziologin und Schriftstellerin Nermin Abadan-Unat (geb. 1921) aus der Türkei, die viele Jahre an der Bogaziçi-Universität in Istanbul lehrte und einen großen Einfluss auf die Kommunikation in der Türkei hatte. Sie ist eine Anhängerin von Kemal Atatürk und engagiert sich bis heute für Demokratie und Frauenrechte. 

"Die Weltgeschichte wurde fast ausschließlich aus männlicher Sicht geschrieben. Als Filmemacher war ich jedoch schon immer daran interessiert, einen anderen Blickwinkel, eine neue Perspektive zu entwickeln", erklärt Regisseur Uli Gaulke im Presseheft zum Film. "So kam ich auf die Idee, die Weltgeschichte der letzten hundert Jahre aus der Sicht von hundertjährigen Frauen zu erzählen, die durch ihr Engagement einen Fußabdruck hinterlassen haben und die Gesellschaft, in der sie leben, in besonderer Weise geprägt haben und noch prägen."

Es sind bewegende und berührende Portraits von fünf Frauen, die auf ihre Art die Welt beeinflusst und geprägt haben – die wirksam waren in ihrem Umkreis. Wir, die wir noch nicht über 100 Jahre Lebenserfahrung verfügen, können davon viel lernen. Nur eine von ihnen – Nermin Abadan-Unat – ist noch am Leben, und so mutet es wie ein Geschenk an, dass dieser Film den anderen vier posthum ein Denkmal setzt. 

Ihr Jahrhundert. Frauen erzählen Geschichte. 
Buch, Regie, Schnitt: Uli Gaulke 

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Die Kraft der Stimmen

André Heller kuratiert eine Woche lang das Programm in der Hamburger Elbphilharmonie. Foto: Daniel Dittus
Hind Ennaira und ihre Musiker. Foto: Daniel Dittus
Hind Ennaira in Aktion! Foto: Daniel Dittus
Einer der jungen Musiker von Hind Ennaira hat eine besondere tänzerische Begabung. Foto: Daniel Dittus
Fareed Ayaz und Abu Muhammad mit ihren Musikern. Foto: Daniel Dittus
Mikrophone hätten diese Musiker eigentich gar nicht gebraucht - ihre Stimmen hätten den großen Saal der Elbphilharmonie auch alleine bis unters Dach erfüllt. Foto: Daniel Dittus
Die beiden Brüder sind Sufi-Meister und füllen mit ihrer Band ganze Stadien in Pakistan. Foto: Daniel Dittus
Nomen est omen: der Reflektor als Sinnbild für das künstlerische Programm. Foto: Daniel Dittus

Alljährlich stellt sich die Elbphilharmonie eine Woche lang ganz in den Dienst einer Künstlerin bzw. eines bestimmten Künstlers. Diese/r darf im Rahmen dieses "Reflektors" das Programm komplett selbst bestimmen. Dieses Jahr wird diese Ehre dem Wiener Allround-Künstler André Heller zuteil. Für diese sieben Tage hat er eine wahre Wundertüte an Vorstellungen zusammengestellt, von Filmen über Diskussionen bis zu in Hamburg noch nie gehörter Musik – wahrhaft eine "Woche des Staunens", wie die Elbphilharmonie schreibt. 

Den Auftakt bildete ein Konzert mit zwei Musikgruppen aus Nahost: die "Sufi-Night" mit spiritueller Musik aus Marokko und Pakistan. Um es vorwegzunehmen: Es war umwerfend. Umwerfend gut. Umwerfend begeisternd. Umwerfend bewegend. Teil 1 bestreitet Hind Ennaira mit ihrer sechsköpfigen Kombo "Black Koyo". Ihre klare Stimme, ihr rhythmisch betontes Spiel der Basslaute, Gimbri genannt, nehmen sofort mit. Die sechs Musiker bewegen sich im Rhythmus dieser Klänge und lassen mit wippenden Köpfen die Troddeln ihrer Kappen kreiseln. Anfangs in rot-schwarze Umhänge gekleidet, später in weiß-glitzernde lange Jacken schlagen die Musiker zum Gesang von Hind Ennaira und Hicham Bilali, der ebenfalls die Gimbri schlägt, überdimensionierte Metall-Kastagnetten. Hin und wieder springt einer der Musiker nach vorne und beginnt zu tanzen – besonders einer von ihnen, ein noch recht junger, vollführt akrobatische Sprünge, Flipflops und sogar einen Salto. Auch wenn man kein Wort versteht, so vermittelt sich doch das Anliegen: Es sind Lobpreisungen Allahs und der Propheten – und manchmal wünscht man sich, eine ähnliche Intensität und Begeisterung wäre in unseren christlichen Kirchen zu spüren. 

Noch gesteigert wird das in Teil 2 durch Fayeed Ayaz und Abu Muhammad, zwei Brüder aus Pakistan, und ihren acht Musikern. Sie spielen im Sitzen: zwei Trommeln, ein Keyboard, zwei Harmonien und Stimmen, die weit über die Elbphilharmonie hinaus zu hören wären, öffnete man die Türen. Und eigentlich versteht man nicht, dass hier überhaupt Mikros aufgebaut wurden – diese Stimmen sind so kraftvoll, so voluminös, dass sie dank der feinen Akustik des Großen Saals sicher auch für sich hätten stehen können. Und fast bedauert man dies, denn durch die Verstärkung werden sie fast schon zu laut, zu wenig differenzierbar. Nur dann, wenn einer der zehn großartigen Sänger alleine erklingt, spürt man, wie beseelt hier gesungen wird. Ganz besonders von den beiden schon betagten Brüdern, aber auch von einem noch ganz jungen Band-Mitglied, dessen glockenklare Stimme nur noch staunen lässt. 

Und so ist dieser Abend ein einziges Fest für die Kraft der Stimmen, eine "rhythmische Extase", wie die Elbphilarmonie den Abend im Programm übertitelt hat. Für die Kunst Marokkos und Pakistans, die wir so wenig kennen und so selten hören. 

Das Programm der ganzen Woche hält noch viele kleine und große Kostbarkeiten bereit – wohl dem, der noch eine Karte ergattert! 

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