Annette Bopp Navigation
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Sie sind hier: FrolleinDoktor - das Blog

Anregende Lektüre ohne Risiken, aber mit Nebenwirkungen. Rezeptfrei in Ihrem Internet. Machense sich doch schon mal frei.

Das ist die Fortsetzung meines Blogs, das ich Anfang 2020 mit Beginn der Corona-Krise weitgehend eingestellt habe – vor allem aus technischen Gründen, die Software lief nicht mehr zuverlässig. Seit Frühjahr 2023 hat es seinen Schlaf endlich beendet und erwacht hier zu neuer Schönheit. Die einzelnen Rubriken sind noch nicht alle wieder befüllt, das wird sich aber mit der Zeit ändern. Kommentare sind auf dieser Seite nicht möglich – wer etwas anmerken will, schickt mir einfach eine E-Mail. Respektvolle Mails beantworte ich gerne – ich achte andere Meinungen und setze mich gern damit auseinander. Pöbelige Schmährufe wandern jedoch sofort in den Papierkorb. Der Name "FrolleinDoktor" ist ein satirisch gemeinter Spitzname und stellt keinen Doktortitel oder medizinischen Status dar. 

 

Mit dem Herzen gereist

Er hat es wieder getan. Wolfgang Büscher, der mit seinem 2009 erschienenen Bericht über seinen Fußmarsch auf den Spuren der Heeresgruppe Mitte “Berlin - Moskau” Reisejournalismusgeschichte geschrieben und dieses Genre mit verschiedenen weiteren Büchern über seine Wanderungen in aller Welt gewissermaßen neu erfunden hat, hat sich wieder mal aufgemacht. Dieses Mal aber nicht zu Fuß, sondern mit dem Geländewagen und auch nicht alleine, sondern in Begleitung von Einheimischen: eines Fahrers und eines Kochs. Aus Gründen: Die Region, die Büscher sich ausgesucht hat, war nicht ohne Risiken. Die Felswüste rund um das Massiv des Assekrem im Süden Algeriens mit einer Ausdehnung von der Größe Frankreichs liegt auf der Route aus dem afrikanischen Süden in den Norden, auf dem Weg zum Mittelmeer. “Sie sind dort eine Handelsware”, habe man ihm vorher gesagt, erzählt Büscher anlässlich seiner Buchvorstellung am 30. Januar 2025 im Hamburger Literaturhaus. Die Region sei riesig, das sei ihm vorher gar nicht so klar gewesen.

Es war ein Foto, das ihn auf die Spur gebracht hat. Das Foto einer mitten in einer Felswüste des Haggar-Gebirges einsam gelegenen Klause, vor hundert Jahren bewohnt von einem “Wüstenheiligen”: Charles de Foucauld, einem französischen Adelsspross aus extrem reichem Hause. Anfangs, wie es sich für die Haute Volée seinerzeit gehörte, als Offizier im Militär tätig, wurde Foucauld später zum Forscher und erkundete vor allem Marokko und den Hohen Atlas, den er erstmals überhaupt kartierte. Er lebte als Mönch und Einsiedler, beschäftigte sich intensiv mit der Geschichte und dem Leben der Tuareg und errichtete auf dem Hochplateau des Assekrem eine schlichte Einsiedelei. Davon hatte Büscher ein Foto gesehen und war fortan von der Idee beherrscht, genau dorthin zu reisen. 

Ursprünglich, so sagt er in Hamburg, habe er gar nicht so weit wegfahren wollen. Er habe eigentlich nur ein “kleines, stilles Buch schreiben wollen über das Unterwegssein", und zwar im Rahmen einer Wanderung auf der Via Appia von Rom nach Sizilien. Damit sei er allerdings kläglich gescheitert. Nach zwei Tagen schon war Schluss, denn: “Italienische Straßen haben keinen Seitenstreifen …”. Danach sei er auf das Foto, auf Foucauld und dessen verrückte Lebensgeschichte gestoßen. Und dann war klar: Es wird die Wüste: “Die Wüste ist ein einziger Seitenstreifen!” 

Und wieder gelingt es Wolfgang Büscher in diesem sehr besonderen Reisebericht, eine ganz eigene Welt zu erzeugen, einen Sog, dem man sich nicht entziehen kann. Er versteht es, eine Landschaft lebendig werden zu lassen, die so karg ist, so öde und leer, aber auch so großartig und gewaltig. Die von Menschen bewohnt und durchstreift wird, die sich seit Jahrhunderten darauf verstehen, sich an die extremen Bedingungen dort anzupassen. Büscher bringt uns eine ganz andere Wüste nahe, als wir sie von Kalenderblättern gewohnt sind. Es sind nicht die Sanddünen mit ihren weitschwingenden Formen, sondern spitze, hohe Felsnadeln, schroffe Wände, hochaufragende Schlote aus erloschenem Vulkangestein, schwarz glänzende Felsen in bizarren Formationen, lebensfeindliche Strukturen sich ins Unendliche dehnender Steinöden. Eine Wüste, in der der Wind die beherrschende Kraft ist, hoch oben auf 2000 m Höhe, wo Foucaulds Klause liegt, wo die Temperaturen oft unter die Nullgradgrenze fallen. Eine Wüste, wie wir sie so gar nicht kennen. 

Nicht nur einmal sehnt man sich beim Lesen trotz der einzigartigen Kunst Büschers, mit Worten Bilder zu malen, nach Fotos, nach einer Karte auch, um genauer zu erfassen, wo er sich da herumgetrieben hat. Aber gerade dass er sich solchen Anschauungsbeispielen verweigert, hat zur Folge, dass man sich mit dieser Region und auch mit Charles de Foucauld näher beschäftigt. Und drei Fotos zeigt er dann doch: Auf dem Umschlag das ramponierte Straßenschild nach Assekrem, auf der ersten Innenseite den betenden Mitfahrer inmitten einer endlosen Schotterwüste mit einer von irgendjemand verlorenen einsamen Gummisandale, und auf der rückwärtigen Innenseite die Foucauld'sche Klause auf dem Felsplateau. Schon diese drei Bilder genügen, um hineinzuziehen in dieses Buch, uns mit diesem Autor, dessen wunderbar eingehende Sprache so zwingend ist, auf den Weg zu machen. Es sind “Ansaugstutzen” für eine faszinierende Reise in eine Region, die uns so fremd ist und die uns Wolfgang Büscher auf seine eigene Weise nahezubringen versteht. Es ist, als schleiche sich die Faszination der Wüste unversehens mitten in unsere Seele. Weil Büscher nicht nur mit dem Herzen sieht, sondern auch mit dem Herzen reist und schreibt. Und wie bei allen Büscher-Reisen wird das Lesen deshalb auch eine Reise zu uns selbst. 

Wolfgang Büscher: Der Weg. Eine Reise durch die Sahara. 
240 Seiten
dtv Verlagsgesellschaft
Hardcover 24 Euro 
E-Book 19,99 Euro

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Herzerwärmend schwäbisch

Es gibt wohl niemand, der die schwäbische Lebensart so verkörpert wie Vincent Klink, Chef der legendären Wielandshöhe an der Alten Weinsteige in Stuttgart. Dem Genuss nie abhold, immer auf einen Abstecher in eine Wirtschaft bereit, mit Bewusstsein für Qualität, und dabei immer ein bisschen nachdenklich-besinnlich. Andere nennen das philosophisch, aber das wäre dem Vincent viel zu hochgestochen. 

Jetzt hat er - nachdem er schon seit Jahrzehnten Venetien durchreiste und daraus ein wunderbares, kenntnisreiches Buch entstand: “Ein Bauch spaziert durch Venedig” – sein Meisterwerk abgeliefert: “Mein Schwaben – Leben und Speisen im Ländle des Eigensinns". Es sind Ausflüge an besondere Orte dort in der Umgebung von Stuttgart bis runter an den Bodensee und nach Oberschwaben. Immer verbunden mit tiefgründigen, historisch bewanderten Erklärungen, vor allem aber mit einer Einkehr in ein besonders empfehlenswertes Restaurant (die Adressen werden dankenswerter Weise am Schluss alle aufgeführt, und seit Erscheinen des Buches dürften sich diese Häuser voller Gaststuben erfreuen) und ebenso mit Rezepten für die typisch schwäbische Küche, z.B. für Flädlessuppe, die berühmten Maultaschen oder den echt schwäbischen und deshalb unbedingt schlonzigen Kartoffelsalat (merke: niemals mit Mayonnaise!!). 

Wer verstehen will, warum dieser Landstrich seinen ganz eigenen Reiz, seine sehr besondere Historie und vor allem eine so gute Küche hat, der muss Vincent Klink lesen, besser noch: vorlesen, aber bitte mit schwäbischem Akzent, anders geht das nicht. Als in Stuttgart geborene Schwäbin, die seit über 50 Jahren in Hamburg zuhause ist, wird mir warm ums Herz, wenn ich dieses Buch in die Hand nehme. Es ist – wie die Küche der Wielandshöhe – ein Genuss. Und zwar von der ersten bis zur letzten Seite. 

Vincent Klink: Mein Schwaben. Leben und Speisen im Ländle des Eigensinns
320 Seiten, Hardcover
mit zahlreichen, handcolorierten Schwarz-Weiß-Fotos des Autors
Rowohlt Verlag, 28 Euro
E-Book 23,99 Euro

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Ottolenghis Wohlfühlküche

Seine Kochbücher sind regelmäßig Bestseller, erst jüngst tourte er durch Deutschland und kochte auf der Bühne: Yotam Ottolenghi. Jetzt hat er ein neues Werk herausgebracht: “Comfort” – Gerichte zum Wohlfühlen. Eigentlich gilt das sowieso für alles, was Ottolenghi auf seinem Herd zaubert. Aber für die Rezepte in diesem Buch gilt es vielleicht besonders. Auch, weil dieses Buch unter Mitarbeit von drei Frauen entstanden ist: Helen Goh, Verena Lochmüller und Tara Wigley. Sie bringen Impulse aus aller Welt mit, aus China, Malaysia und Australien ebenso wie aus England und Nordafrika. 

Und so ist dieses Buch - wie immer bei Ottolenghi höchst ästhetisch komponiert – eine Fundgrube für alle Tage. Die Rezepte sind nicht wirklich kompliziert und inspirieren zu ungewöhnlichen Kombinationen, je nachdem, was die eigene Küche gerade vorrätig hat. Von Eierspeisen über Suppen, Dips, Frittiertes und Gebratenes, Gemüse, Geflügel, Teigwaren, Eintöpfe und Reis bis zu Pies, Pasteten Brot und Süßigkeiten ist so gut wie alles dabei. Eine wunderbare und vor allem unwiderstehliche Anregung für alle, die gerne kochen. An die Töpfe, fertig, los! 

Ottolenghi: Comfort
320 Seiten, Hardcover
DK Verlag, 38 Euro

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Das unterschätzte Gemüse: Grünkohl

In Süddeutschland kennt man ihn kaum, im Norden vor allem mit Pinkel (einer durchaus leckeren Grützwurst): Grünkohl. Mancherorts, vor allem in der veganen Küche, werden die krausen Kohlblätter, die erst richtig “reif” sind, wenn sie einmal Frost abbekommen haben, im Backofen geröstet und so zu gesunden Chips verarbeitet – ein wahrer Booster an Vitaminen, Mineralstoffen und Antioxidantien.

Wie köstlich und verschieden das Wintergemüse zubereitet werden kann, zeigt jetzt ein kleines, aber feines Kochbuch. Daraus geht hervor, dass das Grünzeug längst nicht immer zu Mus verkocht werden muss, sondern kurz blanchiert auch als Salat verspeist werden kann. Oder sich als Zutat in der Fleischmasse von Buletten eignen. Da erlangt der Spruch “Fleisch ist mein Gemüse” doch eine ganz neue Aktualität … Etwas ganz Besonderes ist Grünkohl als Bestandteil von Brötchenteig – eine prima Grundlage für einen herzhaften Belag. Kurzum: Grünkohl ist vielseitig und schmackhaft und sollte in den Wintermonaten viel öfter auf den Tisch kommen! 

Carina Sandmann: Grünkohl 
88 Seiten, Hardcover
Thorbecke Verlag, 18 Euro

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Lesenswertes für ruhige Tage

Die Zeit zwischen Heiligabend am 24. Dezember und dem Fest der Heiligen Drei Könige am 6. Januar gitl seit altersher als eine besondere Zeit. Eine Zeit, in dem wir dem Himmel ein bisschen näher sind als sonst, und in der uns der Himmel ein bisschen weiter offen steht als gewöhnlich. Es ist die Zeit der Rauhnächte, der Ruhe, der Besinnung, des Rückzugs vom Alltagsgeschehen und seiner Hektik. Und auch wenn die Wintersonnenwende am 21. Dezember davon kündet, dass die Sonne ihren Tiefpunkt im Jahreslauf erreicht hat, so sind die Nächte doch immer noch lang und kalt. Eine Zeit also, die wie geschaffen ist für ein gutes Buch. Hier ist eine Auswahl, die ich für besonders lesenswert halte. 

 

Ein ungleiches Paar: Gabriele Münter und Wassily Kandinsky 

Er galt bis zur Entdeckung des umfangreichen Werkes von Hilma af Klint als der Begründer der abstrakten Malerei: Wassily Kandinsky. In seinem Schatten stand viele Jahre lang seine Lebensgefährtin in der Zeit zwischen 1901 und 1914. In Murnau hatten sie ein Haus gekauft (von der Bevölkerung als das “Russenhaus” tituliert und heute ein sehenswertes Museum, in dem vieles noch so erhalten ist, wie es Gabriele Münter hinterlassen hat), in dem sie in “wilder Ehe” zusammenlebten, weitgehend gemieden vom Rest der Gesellschaft. Sie gründeten gemeinsam mit Franz Marc und anderen die Künstlergemeinschaft “Blauer Reiter”. Mit dem Ausbruch des 1. Weltkriegs kehrte Kandinsky nach Russland zurück. Die Hoffnung Gabriele Münters, dass er sich von seiner ersten Frau in Russland scheiden und sie heiraten würde (zu dieser Zeit war das für eine Frau die einzige Möglichkeit, gesellschaftlich anerkannt mit einem Mann zusammenzuleben), zerschlug sich damit. Münter reussierte in Skandinavien mit ihrer Malerei und kehrte 1920 nach Deutschland zurück. Kandinsky hatte sie zwischenzeitlich auch offiziell von ihr getrennt, was sie sehr getroffen hat. Es gäbe noch viel zu berichten über das ungleiche Leben der beiden Künstler, das würde jedoch einem Buch und ebenso einem Film vorgreifen, die beide gleichermaßen lesens- bzw. sehenswert sind. 

Das Buch beruht auf den Recherchen von Alice Brauner und Heike Gronemeyer, die den Nachlass von Gabriele Münter durchforstet haben, ihre Briefe und Tagebücher, und die auch mit Zeitzeugen und Nachkommen gesprochen haben. 

Der Film - so viel sei doch noch erwähnt – schildert Münters Leben vor allem aus der Sicht einer ungewöhnlichen, selbstständigen Frau, die sich ihren Weg in der künstlerischen Szene Anfang des 20. Jahrhunderts mühsam erkämpft (grandios als Hauptdarstellerin: Vanessa Loibl). Die enttäuscht wird von der selbstgefälligen Attitude eines Mannes, der ihr in der Malerei zwar ebenbürtig war, menschlich aber eben doch nicht. Das Buch wie der Film rühren gleichermaßen an und öffnen den Blick auf eine bedeutsame Künstlerin. 

Alice Brauner, Heike Grönemeier: Münter & Kandinsky. Von der Macht der Farben und einer fatalen Liebe
336 Seiten, Hardcover
Penguin Verlag, 28,80 Euro
E-Book: 22,99 Euro

Münter & Kandinsky - der Film 
Trailer auf YouTube
 

Das schwierige Ergründen der Vergangenheit 

In diesen Jahren mehren sich die Bücher, die sich damit auseinandersetzen, welche Folgen die Wende 1989 für die Menschen gehabt haben, die schon in der Zeit davor die Flucht aus der DDR geschafft haben, und die sich dann nach der Wende schmerzlichen Wahrheiten stellen mussten. Eines dieser Bücher ist das von Margarethe Adler. Sie beschäftigt sich mit der Frage, was Flucht und Ausreise in den Westen für diejenigen bedeutet haben, die zurückbleiben mussten. Es ist ein Plädoyer für mehr Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit, auch wenn sie schmerzlich ist. In diesem Buch ist es – wie schon bei der Aufarbeitung der Nazi-Zeit zwischen 1933 und 1945 – die Generation der Enkelinnen und Enkel, die die unbequemen Fragen stellt, die nicht locker lässt auf der Suche nach der Wahrheit. Ein Buch, das für mehr Verständnis wirbt – auf allen Seiten. 

Margarethe Adler: Die Stunde der Mauersegler
352 Seiten, Hardcover
C. Bertelsmann Verlag, 22 Euro
E-Book: 14,99, auch als Hörbuch erhältlich 
 

Höre, was dein Herz dir sagt 

Es ist das Übliche: Ein 51-jähriger Mann, Architekt von Beruf, klappt auf der Rolltreppe eines Zürcher Kaufhauses zusammen: Herzinfarkt. Dank den Segnungen der modernen Akutmedizin wird er gerettet. Und bekommt eine zweite Chance. Auch die Chance, sich mit seinem bisherigen Leben auseinanderzusetzen. Zu überlegen: Warum ist mir das passiert? Warum gerade jetzt? Denn Peter Munk, der Titelheld dieses Romans, hat alles andere als unvernünftig gelebt: Er raucht nicht, trinkt wenig Alkohol, er treibt Sport, ernährt sich gesund und sogar der berufliche Stress hält sich in Grenzen. Was also war hier los, dass ausgerechnet sein Herz versagt? Und so stellt sich Munk in der Zeit seiner Reha den elementaren Fragen seines bisherigen Lebens: Was war gut daran, was war verbesserungswürdig? Überhaupt: Was ist Leben? Was ist die Liebe? Und so überdenkt Munk die 13 (!) wesentlichen Liebesbeziehungen seines Lebens, manche kürzer, manche länger, aber alle prägend. Vorprägend auch für das Ereignis auf der Rolltreppe. Er lernt, Wesentliches von Unwesentlichem zu unterscheiden. Und er lernt, auf sein Herz zu hören. Ein großartiger Roman, dem die Lebensweisheit aus jeder Zeile spricht, ohne je aufdringlich oder besserwisserisch zu sein. 

Jan Weiler: Munk
384 Seiten, Hardcover
Heyne Verlag, 24 Euro
E-Book: 19,90, auch als Hörbuch erhältlich
 

Unter die Lupe genommen 

Es kommt selten vor, dass ein Roman von zwei Autoren gemeinsam geschrieben wird, in diesem Fall von zwei Autorinnen, geb. 1970 und 1976. Sie nehmen die deutsche Gesellschaft unserer Zeit unter die Lupe, indem sie den Zweispalt eines Journalisten schildern, die sich mangels Alternativen als Berater für Kommunikation bei einem populistischen Politiker verdingt. Was in seinem Umfeld, vor allem innerhalb seiner Familie, für hochgezogene Augenbrauen und heftige Anwürfe sorgt. Schließlich war er in einem liberalen Elternhaus aufgewachsen, mit Populismus (Frage: Was ist das eigentlich?!) hatte er bisher wenig zu tun. Donata Rigg und Claudia Klischat ist hier ein Roman gelungen, wie er aktueller nicht sein könnte. Bemerkenswert ist, dass die Arbeit an diesem Buch unterstützt wurde vom Bayerischen Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst, vom Programm Neustart Kultur der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien (bislang war das Claudia Roth von Bündnis 90/die GRÜNEN) sowie von der VG Wort. Leider wird im Buch zur Begründung, warum das so war und warum sich diese zwei Autorinnen zusammengetan haben, nichts gesagt. 

Donata Rigg, Claudia Klischat: Zeitlang
624 Seiten, Hardcover
Ullstein Buchverlage, 26,99 Euro
E-Book 20,99 Euro
 

Meisterhafte Fotografien und eine große Liebe

Das ikonische Foto von Robert Capa eines von einer Kugel getroffenen Soldaten der republikanischen Armee im spanischen Bürgerkrieg ging um die Welt. Dass er eine Gefährtin hatte, die seine große Liebe war, und die ihm in der Meisterschaft der Fotografie in nichts nachstand, ist wenig bekannt. Und so ist es das große Verdienst von Caroline Bernard alias Tania Schlie, dass sie Gerda Taro mit diesem fiktiven, aber dennoch auf intensiven Recherchen beruhenden Roman aus der Vergessenheit geholt hat. Taro, die ursprünglich Gerta Pohorylle hieß, stammte aus einer jüdischen Familie und kämpfte schon früh gegen den Nationalsozialismus. 1933 floh sie vor den Nazis nach Paris und lernte dort Endre Friedmann kennen, aus dem später Robert Capa wurde. Die beiden vereinte die Liebe zur Fotografie und zueinander. Wie Capa fotografierte Gerda Taro im spanischen Bürgerkrieg, und leider starb sie dort, viel zu früh, am 26. Julli 1937, kurz vor ihrem 27. Geburtstag. Robert Capa hat sich von diesem Verlust nie wirklich erholt. “Gerda Taro war eine der ersten Frauen, die einen Krieg fotografiert haben”, sagt Caroline Bernard selbst über ihr Buch. “Sie ist eine der vielen »beklauten« Frauen, die Großes geleistet haben, deren Verdienste aber hinter denen von Männern verschwunden sind. In meinem Roman »Der Blick einer Frau« habe ich versucht, ihr ein Gesicht und eine Geschichte zu geben. (…) Sie ist eine der vielen Frauen, von denen wir mehr wissen und die wir uns als Vorbilder nehmen sollten: überaus mutig, mit einer festen Vorstellung davon, wie die Welt sein sollte, mit einer gewaltigen Lust auf das Leben und die Liebe.” Dieses Buch könnte zeitgemäßer kaum sein. 

Caroline Bernard: Der Blick einer Frau. Sie riskierte ihr Leben, um die Welt zu verändern
384 Seiten, Hardcover
Rütten & Loening Verlag, 22 Euro 
E-Book 16,99 Euro
 

Ein neuer Blick auf Ostafrika 

Navid Kermani, hablilitierter Orientalist und in Köln lebender freier Schriftsteller, hat sich aufgemacht, den Osten Afrikas zu erkunden. Seine Reise führte ihn von Madagaskar über die Komoren, Mosambique, Tansania, Kenia und Äthiopien bis in den Sudan. Kermani beobachtet die Menschen dort, wie sie fliehen vor Hunger, Krieg und Dürre. Und wie sie dennoch allen Widernissen trotzen und auch noch schwierigsten Situationen etwas Positives abgewinnen, um ihm eine eigene Prägung zu geben. Navid Kermani ist hier ein neuer, ganz anderer Blick auf diesen von uns viel zu sehr vernachlässigten Kontinent gelungen. Seine feine Beobachtungsgabe bringt uns die Schönheit des Landes, aber auch seiner Bewohnerinnen und Bewohner, auf ihre Stärke und Kreativität nahe. Es öffnet den Blick auf eine Region, die von den Medien hierzulande sträflich vernachlässigt wird. Es sollte Pflichtlektüre für alle sein, die sich mit den Fragen unserer Zeit beschäftigen. 

Navid Kermani: In die andere Richtung jetzt. Eine Reise durch Ostafrika 
272 Seiten, Hardcover 
C.H. Beck Verlag, 26 Euro 
E-Book 19,99 Euro
 

Späte Einsichten 

Die Lungenheilstätten Berlin-Beelitz sind Anfang des 20. Jahrhunderts ein Ort, wo Fabrikarbeiter/innen behandelt werden. Dort begenen sich 1907 die Arbeiterin Anna Brenner und die Schriftstellerin Johanna Schellmann. Anna hat besondere Fähigkeiten, sie gilt als hellsichtig, was auf Johanna eine besondere Faszination ausübt. Als Johanna versucht, Anna für ihre Zwecke einzspannen, verweigert sich die Freundin. Jahrzehnte später erst kommt Vanessa, die Urenkelin Johannas, den schicksalhaften Verflechtungen der beiden Frauenleben auf die Spur. Da ist Beelitz schon längst zum Luxus-Refugium geworden … Ulla Lenze ist hier ein spannender Roman gelungen, der einen tiefen Blick wirft auf zwei sehr gegensätzliche Frauenleben am Anfang des vergangenen Jahrhunderts, aber auch auf die Gegenwart. 

Ulla Lenze: Das Wohlbefinden
336 Seiten, Hardcover
Klett Cotta Verlag, 25 Euro
E-Book 19,99 Euro, auch als Hörbuch erhältlich
 

Plaudereien im Kaffeehaus 

Es gibt kaum einen Ort, wo so viel getratscht wird, wie ein Kaffeehaus. Bernd-Lutz Lange alias Richard Dumont setzt sich an den fiktiven Tisch eines solchen Etablissements und lässt sich ein auf spannende Begegnungen. Sie sind in diesem Buch festgehalten und reichen zeitlich von den 1920er Jahren bis heute. Und irgendwann weiß man nicht mehr zu unterscheiden zwischen möglicher Wahrheit und spinnerter Fiktion. Eine ebenso amüsante wie abwechslungsreiche Lektüre für lange Winterabende. Und eine Anregung, bald mal wieder ein Kaffeehaus aufzusuchen. Wer weiß, wer einem da begegnet … vielleicht verändert sich dadurch das eigene Leben? 

Bernd-Lutz Lange: Café Continental. Geschichten und Plaudereien an Marmortischen
395 Seiten, Hardcover
Aufbau-Verlage, 22 Euro
E-Book 15,99 Euro
 

Thomas Mann revisited 

Am 6. Juni 2025 jährt sich der Geburtstag des bedeutenden deutschen Schriftstellers zum 150. Mal – Grund genug für den Filmemacher Heinrich Breloer, sich der frühen Jahre Thomas Manns anzunehmen. Breloer, bekannt durch seine Filme “Die Manns” und “Buddenbrooks”, schildert hier die Annäherung des jungen Schriftstellers an Katia Pringsheim in den Jahren vor dem 1. Weltkrieg. Thomas Mann muss damals schmerzlich bewusst geworden sein, dass seine Homosexualität in krassem Widerspruch stand zu den gesellschaftlichen Zwängen. Wenn er also ein erfolgreicher Schriftsteller werden wollte (und mit den “Buddenbrooks” hatte er bereits erste Anerkennung erlangt), dann musste er eine Frau an seiner Seite haben. Es wurde, wie man weiß, eine lange, kinderreiche Ehe. Ohne Katia hätte Thomas Mann allerdings niemals den Ruhm erreicht, der ihm später zuteil wurde. Empfehlenswert in diesem Zusammenhang: die Dokumentation “Frau Thomas Mann” von Birgit Kienzle aus 2005, die auf YouTube einsehbar ist. 

Heinrich Breloer: Ein tadelloses Glück. Der junge Thomas Mann und der Preis des Erfolgs
464 Seiten, Hardcover
DVA Deutsche Verlags Anstalt, 26 Euro
E-Book 22,99

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