Annette Bopp Navigation
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Sie sind hier: FrolleinDoktor - das Blog

Anregende Lektüre ohne Risiken, aber mit Nebenwirkungen. Rezeptfrei in Ihrem Internet. Machense sich doch schon mal frei.

Das ist die Fortsetzung meines Blogs, das ich Anfang 2020 mit Beginn der Corona-Krise weitgehend eingestellt habe – vor allem aus technischen Gründen, die Software lief nicht mehr zuverlässig. Seit Frühjahr 2023 hat es seinen Schlaf endlich beendet und erwacht hier zu neuer Schönheit. Die einzelnen Rubriken sind noch nicht alle wieder befüllt, das wird sich aber mit der Zeit ändern. Kommentare sind auf dieser Seite nicht möglich – wer etwas anmerken will, schickt mir einfach eine E-Mail. Respektvolle Mails beantworte ich gerne – ich achte andere Meinungen und setze mich gern damit auseinander. Pöbelige Schmährufe wandern jedoch sofort in den Papierkorb. Der Name "FrolleinDoktor" ist ein satirisch gemeinter Spitzname und stellt keinen Doktortitel oder medizinischen Status dar. 

 

Ein bewegender Film

Solano und sein Sohn Jony (c) Beautiful Stories Productions
(c) Beautiful Stories Productions
Guada mit ihrem Pferd (c) Beautiful Stories Productions
Jony und Lelo (c) Beautiful Stories Productions
(c) Beautiful Stories Productions
(c) Beautiful Stories Productions
(c) Beautiful Stories Productions

Ein Mann liegt bäuchlings in einer Wiese. Schlafend. Er erwacht und erhebt sich langsam von seiner Unterlage. Die ist, erst da erkennt man es, der Rumpf eines Pferdes. Auch das Pferd erwacht. Beide gehen weg, ein Hund folgt. Schnitt. Drei Männer reiten in wildem Galopp über flaches Land, anhand ihrer Kleidung und ihrer Sättel als eine Art Cowboys erkennbar. An ihrem Aussehen und ihrer Kleidung wird jedoch klar, dass wir nicht in der Prairie Nordamerikas sind, sondern im Süden, in Argentinien, wo die Gauchos, nomadische Viehhütergemeinschaften im Nordwesten des Landes, an der Grenze zu Chile und Bolivien, eine lange Tradition haben. 

Es sind stolze Männer, der Natur tief verbunden, mit einer eigenen Spiritualität, mit über Jahrhunderte geschärften Sinnen für ihre Tiere, den Kosmos und seine Launen. Menschen, die der allgemeinen Technisierung unserer Welt trotzen. Die aber auch ihre ganz eigenen Regeln haben. Dazu gehört, dass Gauchos eine Männerdomäne sind. Der Titel des Films, der seit heute in den Kinos ist, kommt nicht von ungefähr: Mit „Gaucho Gaucho“ werden Männer bezeichnet, die sich strikt nach den Traditionen richten und den historisch geformten Ehrenkodex der Gemeinschaft aufrechterhalten. 

Entsprechend revolutionär ist es, wenn hier eine junge Frau, die 17-jährige Guada, sich entschließt, Gaucha zu werden. Schon in der Schule setzt sie ein Zeichen und verweigert die dort verordnete Uniform – sie trägt lieber Gaucho-Kleidung: weite dunkle Hose, weißes Hemd, Wollponcho, breitkrempiger Hut. Und wird damit natürlich zur Außenseiterin, die sich erst einmal mit viel Mut und Beharrlichkeit durchkämpfen muss, um ihr Ziel zu erreichen. Der Film erzählt aber auch die Geschichte des Gauchos Salano und seinem kleinen Sohn Jony, dem er all das beibringt, was ein Gaucho können muss. Und er lässt den 84-jährigen Gaucho Lelo von seinen Erfahrungen und Erlebnissen berichten. 

Von Beginn an wird klar, dass das hier kein schwülstiger Retro-Film ist, der seufzend die Vergangenheit beschwört. Es ist vielmehr ein Weckruf an unsere Gesellschaft heute, sich auf Werte zu besinnen, die in Vergessenheit geraten sind. Auf Werte wie Gemeinschaft, Solidarität, Respekt vor der Natur und anderen Menschen. „Gaucho Gaucho“ – das ist ein ungemein einfühlsamer Film, der, gerade weil er in Schwarz-Weiß gedreht ist, sofort mitten ins Herz trifft, nicht zuletzt aufgrund der großartigen Regie und Kameraführung von Michael Dweck und Gregory Kershaw. Er ist eine Huldigung an die Ureinwohner Südamerikas, die gegen die Conquistadores, die spanischen Kolonialherren, rebelliert haben – erfolglos. Und doch sind ihre Nachfahren noch am Leben, besinnen sich auf ihre Traditionen und Werte. Ähnlich wie die indigenen Völker auf anderen Kontinenten kämpfen sie jedoch mit den Folgen der Zivilisation, mit der Einschränkung ihres Lebensraums, mit Dürren und Überschwemmungen, mit Staubstürmen und extremen Temperaturschwankungen. 

„Wir erzählen von ikonischen Gauchos, die jenseits der Grenzen des modernen Universums leben und sich mit der Brüchigkeit ihrer Welt angesichts eines beispiellosen Wandels auseinandersetzen“, sagt Michael Dweck. „Die Geschichten folgen dem Leben von Männern und Frauen unterschiedlichen Alters, unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlicher Fähigkeit, die all in ihrem Kampf um Freiheit miteinander verbunden sind.“ Und Gregory Kershaw ergänzt: „Es geht darum, ein Bild zu kreieren, das ein Gefühl vermittelt.“ 

Das ist den beiden und ihrem argentinischen Team auf großartige Weise gelungen – dieser Film bleibt im Gedächtnis, lässt nachdenklich werden und öffnet das Bewusstsein für den Wert der Traditionen. „Wenn man Zeit in dieser Gemeinschaft verbringt“, sagt Michael Dweck, „erkennt man, dass wir in der modernen Welt so viel verloren haben, und zwar so langsam und schrittweise, dass wir gar nicht merken, was uns fehlt.“ Dieser Film trägt dazu bei, dass wir uns dessen wieder mehr bewusst werden und Konsequenzen daraus ziehen. 

Nicht ohne Grund hat er bereits einige wichtige Auszeichnungen eingeheimst, u.a. den U.S. Documentary Special Jury Award  beim Sundance Film Festival 2024, den Letterbord Piazza Grande Award beim Locarno Film Festical 2024 und den ASC Award 2025 der American Society of Cinematographers.  

Gaucho Gaucho
Regie und Kamera: Michael Dweck, Gregory Kershaw 
Schnitt: Gabriel Rhodes
Produktion: Beautiful Stories Productions
 

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Sommerlektüre, die zweite

Und hier folgt Teil 2 meiner Empfehlungen für eine gute Sommerlektüre, die natürlich auch für den Herbst und Winter oder das Frühjahr des kommenden Jahres gilt! 

 

Zwei kritische Blicke auf die Corona-Zeit 

Mehrfach wurde in den vergangenen Monaten angemahnt, die Corona-Zeit mit all ihren Maßnahmen und Einschränkungen gründlich aufzuarbeiten. Die geleakten RKI-Files waren dafür ein Anfang. Jetzt liegen zwei Bücher vor, die jedes auf seine Art einen wichtigen Beitrag zu dieser dringend nötigen Aufarbeitung leistet. 

Das erste stammt von Bastian Barucker, der mit seinem YouTube-Kanal schon in der Corona-Zeit immer wieder wertvolle Informationen lieferte und auch an der Veröffentlichung der RKI-Files beteiligt war. Sein Buch fasst verschiedene Beiträge zur diesen Corona-Protokollen des Robert Koch Instituts zusammen. Es ist eine Sammlung von Beiträgen verschiedener Autorinnen und Autoren, die eine kritische Sicht auf Lockdowns und Impfpficht-Versuche, auf Schulschließungen und Grundrechtseinschränkungen eint. Dazu gehören neben Bastian Barucker selbst die Journalistin Aya Velázquez (sie hat am 24. Juli 2024 die geleakten RKI-Protokolle ungeschwärzt veröffentlicht), der Journalist und Mitherausgeber des Online-Magazins "Multipolar" Paul Schreyer (der als erster in einem jahrelangen Rechtsstreit die Herausgabe und Entschwärzung der RKI-Protokolle eingefordert hat), der FDP-Politiker Wolfgang Kubicki, die WELT-Redakteurin Elke Bodderas, Neurowissenschaftlerin Valeria Petkova, die Wissenschaftler Prof. Dr. rer. nat. habil. Oliver Hirsch und Dr. med. Kai Kisielinksi, der Kinderarzt Dr. Alexander Konietzky (Ärztlicher Geschäftsführer der “Ärztinnen und Ärzte für individuelle Impfentscheidung e.V.”, die Biologin Sabine Stepel, der frühere Nachrichtenchef der “Berliner Zeitung” und heutige Chefredakteur des “Nordkurier” Philippe Debionne, die Journalistin Ruth Schneeberger (2020-2025 Ressortleiterin Gesundheit bei der “Berliner Zeitung”, zuvor 15 Jahren lang bei der Süddeutschen Zeitung tätig), der Professor für Öffentliches Recht, Medien- und Telekommunikationsrecht Volker Boehme-Neßler, der Rechtsanwalt Sebastian Lucenti und die ehemalige Richterin Franziska Meyer-Hesselbarth sowie die Professorin für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtsphilosophie und Rechtsvergleichung Frauke Rostalski, seit 2020 Mitglied des Deutschen Ethikrates, wo sie zu den vier Mitgliedern gehörte, die in der Ethikrat-Stellungnahme gegen eine erweiterte Impfpflicht gestimmt haben. 

Schon diese illustre Liste zeigt, dass in diesem Buch das Thema von verschiedenen Seiten beleuchtet und der Kenntnisstand aus unterschiedlicher Warte analysiert und eingeschätzt wird. Es ist ein Buch, dem man eine weite Verbreitung wünscht. Dass es bisher von den Medien weitgehend totgeschwiegen wird, spricht für sich. 

Bastian Barucker (Hrsg.): Vereinnahmte Wissenschaft 
Die Corona-Protokolle des Robert-Koch-Instituts 
252 Seiten, Softcover 
Massel Verlag, 22,90 Euro 

Das zweite Buch stammt aus der Feder von Anders Tegnell, Arzt und Infektionsspezialist und von 2013 bis 2022 Staatsepidemiologe bei der schwedischen Behörde für öffentliche Gesundheit (bei der Abfassung des Buches wurde er unterstützt von der Journalistin Fanny Härgestam). Tegnell war maßgeblich verantwortlich für den “schwedischen Weg” durch die Corona-Zeit. Sein Hauptmotiv dabei: Eigenverantwortung statt Zwang. Tegnell selbst sagt dazu: “Wir verließen uns auf die schwedische Praxis der Freiwilligkeit und Eigenverantwortung, statt auf feste Regeln zu setzen. Wir wollten die Schwedinnen und Schweden langfristig und dauerhaft schützen. Die vorgeschlagenen Maßnahmen mussten zu unserer heterogenen Gesellschaft passen, vom dicht besiedelten Stockholm bis zu den dünn besiedelten Regionen Norrlands. Das ist für mich besonders wichtig. Ich glaube nicht an ‘one size fits all’.” 

Tegnell stellt darin dar, wie und warum er zu seiner Linie kam, wo auch er Fehler gemacht hat und welchen Fragen er sich stellen musste. Er zeigt auf, welchen Mut es erforderte, aber auch wie viel Gelassenheit, Langmut und Stehvermögen, gepaart mit wissenschaftlicher Aufrichtigkeit, um Schweden erfolgreich durch diese schwierige Zeit zu manövrieren. Dieses Buch sei deshalb vor allem all denjenigen eindringlich ans Herz gelegt, die den Erfolg des schwedischen Weges bezweifeln, die Anders Tegnell nicht nur einmal als leichtfertig und unverantwortlich diskreditiert haben. Sie werden sehen, dass er alles andere als ein Luftikus war. Er hat sich lediglich nicht ins Bockshorn jagen lassen von unbewiesenen Behauptungen, und er wusste, dass Angst der schlechteste Ratgeber ist, vor allem in Krisensituationen. Sein Weg war der des Vertrauens in die Eigenverantwortung der Menschen. Dass das Land damit letztlich viel besser durch die Corona-Zeit gekommen ist als die meisten anderen in Europa, zeigt, dass er Recht hatte. Deutschland hätte sich daran ein Beispiel nehmen sollen. 

Anders Tegnell mit Fanny Härgestam: Der andere Weg. 
Eigenverantwortung statt Zwang: Wie Schwedens Chef-Epidemiologe die Pandemie zähmte 
288 Seiten, Hardcover
Benevento Verlag, 26 Euro

 

Erinnerung an eine mutige Frau 

Es ist der Urenkel, der mit diesem Buch seiner Urgroßmutter ein Denkmal setzt: Henning Sußebach, geborten 1972, mehrfach preisgekrönter Redakteur bei der Wochenzeitung DIE ZEIT, erinnert damit an Anna Kalthoff (1866–1932). Sie wurde 1887 als neue Lehrerin in ein gottverlassenes Nest im tiefsten Sauerland versetzt. Aufgrund ihrer unkonventionellen Art stößt sie rasch an Grenzen und findet erst über einige Umwege und Hindernisse zu ihrem Lebensglück. 

Gut 150 Jahre später rekonstruiert Sußebach anhand von Fotos, Poesiealben, Postkarten, einem Kaffeeservice und einem Verlobungsring die Geschichte seiner Urgroßmutter. Er kombiniert die bruchstückhaften Erinnerungen mit historischen Ereignissen, die in diesen Jahrzehnten das Leben in Deutschland und der Welt geprägt haben. Auch wenn vieles an dieser Schilderung zwangsläufig fiktiv bleiben muss, so entsteht doch ein anschauliches Kaleidoskop, das nicht nur eine mutige, ungewöhnliche Frau portraitiert, sondern gleichermaßen auch ein Sittenbild der Gesellschaft ihrer Zeit abgibt. 

Henning Sußebach: Anna oder: Was von einem Leben bleibt
Die Geschichte meiner Urgroßmutter
205 Seiten, Hardcover
C.H. Beck Verlag, 23 Euro

 

Eine bewegende Geschichte aus der Nachkriegszeit, brillant erzählt 

Es sind oft die düsteren Zeiten, die die bewegendsten Geschichten hervorbringen. Susanne Abel, die schon mit ihren beiden Bestsellern “Stay away from Gretchen” und “Was ich nie gesagt habe” Furore gemacht hat, legt nun ihren dritten Roman vor. Auch er befasst sich mit einem bislang weitgehend totgeschwiegenen Kapitel deutscher Geschichte: dem Schicksal von Heimkindern und Kriegswaisen in der deutschen Nachkriegszeit. Viele wissen nichts über ihre Herkunft, sie sind verloren in all den Trümmern, die der Zweite Weltkrieg hinterlassen hat. 

Susanne Abel erzählt in der ihr eigenen unmittelbaren und mitten ins Herz treffenden Art die Geschichte von zwei solchen Waisenkindern von 1945 bis heute. Sie schildert unverblümt die katastrophalen Zustände in den Kinderheimen mit ihrer schwarzen Pädagogik, mit unsäglichen Strafen bei harmlosesten Verstößen gegen Disziplin und Verbote. Es ist kaum zu ermessen, wie groß das Leid dieser Kinder war und wie sehr sie auch noch im Erwachsenenalter darunter gelitten haben müssen, meist im Verborgenen, voller Scham über das Erlebte und die damit verbundenen Erniedrigungen. Und kaum zu ermessen ist auch, in welch großem Maß sich all das auf die nachfolgenden Generationen ausgewirkt haben muss und bis heute auswirkt. 

Bleibt zu wünschen und zu hoffen, dass Susanne Abel damit ein Tor aufgestoßen hat, damit die heutige Töchter- und Söhne- bzw. Enkelgeneration bei ihren Eltern und Großeltern nachgräbt und durch Anteilnahme und Interesse dazu beiträgt, dass dieses düstere Kapitel aufgearbeitet wird und die Betroffenen aus ihrem Schweigen erlöst werden. 

Susanne Abel: Du musst meine Hand fester halten, Nr. 104
544 Seiten, Hardcover
dtv, 24 Euro 

 

Anschauliche Innenwelt 

Mit ihrem Bestseller “Darm mit Charme” hat die Ärztin Giulia Enders schon vor über zehn Jahren einen Überraschungs-Bestseller mit Millionenauflage geschrieben – damals noch als 23-Jährige Studentin. Mit ihrem unbekümmert-direkten Schreibstil nahm sie diesem zentralen Organ unseres Körpers den Nimbus des schamhaft Verschwiegenen und rückte es in seiner Bedeutung für den ganzen Organismus an die richtige Stelle. Jetzt hat Enders erneut zur Feder gegriffen und sich allem Organischen gewidmet, das unseren Körper ausmacht. 

Dazu schreibt sie selbst im Vorwort: “Den Körper zu verstehen nützt nicht nur, um Krankheiten vorzubeugen. Unsere Organe haben einen wesentlichen Anteil daran, was es heißt, wir selbst zu sein. Sie beeinflussen zentrale Fragen, etwa: Was brauchen wir wirklich? Wie gehen wir mit Bedrohung um? Auf welche Weise wollen wir einander behandeln? Oder auch: Was können wir leisten und auf welchem Weg? Verstehen wir die Antworten des Körpers besser, können wir ein stimmigeres Leben führen. (…) Egal, wie laut die Welt um uns herum ist, ob sie auf Klicks basiert, auf Nullen und Einsen und auf nichts dazwischen, es ändert nichts an unserem innersten – wir sind organische Wesen. Verbunden über Fasern, verweben wir die Fähigkeiten der Organe zu einer einzigartigen Lebendigkeit. Wir erfinden uns andauernd neu, formen uns um und bleiben gleichzeitig Millionen Jahre alt. Es gibt eine Stimme, die uns an all das erinnert. Ihre Sprache zu sprechen macht uns zu Ureinwohnern unseres Selbst: Organisch." 

Und wie schon in “Darm mit Charme” lässt Enders durch viele, locker aufbereitete Geschichten über unsere Innenwelt die Leserin und den Leser staunen über das die Wunderwelt des Menschen, die sich in unserem Körper auftut. Über das fein abgestimmte Zusammenspiel, die unendlich vielen Verflechtungen, die komplexe Kommunikation zwischen Geweben, Blut und Nerven, zwischen Sinnen, Muskeln und Organen. Sie öffnet damit einen Blick auf das Wesentliche: auf die Ganzheit des Menschen, der so viel mehr ist als die Summe seiner Teile. 

Allerdings berücksichtigt Giulia Enders hier nur einen Teil der Organe, konkret geht es ihr um die Lunge, das Immunsystem (das nicht wirklich ein Organ ist), die Haut, die Muskeln (auch sie fallen nicht unter den strengen Begriff eines Organs) und das Gehirn. Das tut der Lektüre jedoch keinen Abbruch, findet Enders doch in dem ihr eigenen leichtfüßigen Stil einen guten Weg, den Menschen nahezubringen, wie wichtig der Körper für ihr Befinden ist, nicht nur physisch, sondern ebenso psychisch und geistig. Und so lernen wir einmal mehr ein Staunen über die Komplexität und das wundersame Zusammenwirken unseres Organismus. Wie sie so schön in ihrem Vorwort sagt: “Ein Blick auf den Körper half mir, Mensch zu sein.” Möge es vielen anderen ebenso ergehen. 

Giulia Enders: Organisch
336 Seiten, Hardcover
mit Illustrationen von Jill Enders 
Ullstein Verlag, 24,99 Euro

 

Thomas Mann, mal anders 

Anlässlich des 150. Geburtstages von Thomas Mann gab es so einige Bücher. Eines der interessantesten davon ist die romanhafte Schilderung der jungen Jahre des Nobelpreisträgers für Literatur von Heinrich Breloer, der sich schon im Rahmen seiner Thomas-Mann-Verfilmung von “Die Buddenbrooks” und der Familiengeschichte “Die Manns” als Experte für diesen Schriftsteller empfohlen hat. Sein neues Werk “Ein tadelloses Glück” beschäftigt sich nun mit den jungen Jahren Thomas Manns, mit der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, die für seine versteckte Homosexualität und die Verbindung mit Katja Pringsheim maßgeblich war. 

Breloer bringt uns dabei in diesem fiktiven Roman, der auf einer sorgfältigen Analyse der verschiedenen Quellen beruht, die uns heute über das Leben Thomas Manns zur Verfügung stehen (darunter auch die Tagebücher von Katjas Mutter, der Schauspielerin Hedwig Pringsheim), einen Menschen nahe, der zerrissen war zwischen seiner Neigung zum gleichen Geschlecht, über die er mit niemandem sprechen konnte, und den bürgerlichen Zwängen seiner Zeit – Homosexualität war damals ein absolutes Tabu, ein pathologisiertes No-Go. Seine Neigungen musste Thomas Mann deshalb hinter einer kühlen Unnahbarkeit verstecken, nur in seinem literarischen Werk durfte er sie – mehr oder weniger verklausuliert – offenbaren. Dennoch, so sagte Breloer bei der Buchvorstellung Mitte Mai in Hamburg, war es ein riskanter “Ritt auf der Rasierklinge”. 

Dass er trotzdem um Katja Pringsheim warb, lag an der herben Androgynität dieser Frau, an ihrer tiefen Stimme, und natürlich auch an ihrer Klugheit. Natürlich wusste sie um seine Neigung, natürlich war ihr klar, dass er trotz der fünf Kinder bei jedem schönen Jüngling schwach wurde und dennoch wusste, dass es nie möglich sein würde, eine solche Liebe zu leben. Katja wusste, dass sie nie solche Gefühle in ihm würde auslösen können, und trotzdem hielt sie ihm die Treue, managte sein Leben, damit er schreiben konnte. Denn die Literatur war sein Ventil, um nicht an den unterdrückten Gefühlen ersticken zu müssen. 

Und so wird deutlich, dass dieses Glück zwischen Katja und Thomas Mann nur äußerlich ein tadelloses war, und dass beide – Thomas Mann selbst ebenso wie Katja – dafür einen hohen Preis bezahlt haben, bis hin zur Selbstverleugnung. Gerade deshalb ist dieses Buch eine lohnende Lektüre. 

Heinrich Breloer: Ein tadelloses Glück
Der junge Thomas Mann und der Preis des Erfolgs 
464 Seiten, Hardcover
DVA, 26 Euro 

 

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Sommerlektüre, die erste

Das Frühjahrsprogramm der Verlage hatte es in sich – eine ganze Reihe von spannenden Neuerscheinungen gibt es da zu bestaunen. Hier eine Zusammenfassung in zwei Teilen der Bücher, die mich am meisten interessiert und auch begeistert haben. 

 

Die Verletzlichkeit der Erinnerung 

Sie ist eine der bekanntesten und wichtigsten italienischen Schriftstellerinnen unserer Zeit: Dacia Maraini. Geboren 1936 in Fiesole, aufgewachsen in Japan und Sizilien. Über diese besondere Zeit ihrer Kindheit in Japan, wohin die Eltern, bekennende Antifaschisten, 1938 wegen Mussolinis Repubblica di Salò emigriert waren, hat sie jetzt ein autobiografisches Buch geschrieben. Über einerseits die Sicherheit und Geborgenheit in der Familie und das Aufwachsen in einer uralten Kultur, was dazu führte, dass Dacia perfekt den Dialekt Kyotos sprach. Und andererseits über die Grausamkeit, die Erniedrigung, den Hunger, die Kälte und die Gewalt in einem japanischen Internierungslager, in das die Familie aufgrund des Dreimächtepakts zwischen dem faschistischen Italien, Nazi-Deutschland und Japan zusammen mit der kleinen italienischen Gemeinschaft 1943 geworfen und erst 1946 nach Kriegsende befreit wurde. Um dieses Lager zu umgehen, musste man die faschistische Regierung schriftlich anerkennen, ansonsten wurde man als Vaterlandsverräter in einem Konzentrationslager in Nagoya interniert. Drei traumatisierende Jahre voller Entbehrungen, über die Dacia Maraini all die Jahrzehnte über geschwiegen hatte und erst jetzt die Kraft fand, darüber zu schreiben. 

Und so stellt sie dem Ganzen ein eigenes Gedicht voran, das all den Schmerz zeigt, mit dem sie in den nunmehr 88 Jahren ihres Lebens gerungen hat: 

"Mein Leben, du bist mir misslungen
hast mich gequält, 
warst verquer,
würdest gerne gehen,
grußlos, einen Fuß nach vorn
und einen zurück, mein Leben, 
du tanzt und singst,
auf den Ruinen der Vergangenheit …
Aber bevor du gehst,
lass dich verstehen,
lass dich spüren,
lass dich umarmen,
lass dich erzählen." 

Es ist ein ungemein bewegendes Buch voller schmerzhafter Erinnerungen, das Dacia Maraini hier geschrieben hat. Ein Buch, das kaum vorstellbare Grausamkeiten schildert, worauf sich auch der Titel bezieht: Jeder Erwachsene im Lager musste pro Tag einen halben Löffel Reis an die Kinder abgeben. Nicht selten waren Ameisen das einzige, womit der Hunger allenfalls für kurze Zeit besänftigt, aber nie gestillt werden konnte. Dacia Marainis tiefes Mitgefühl mit allen Unterdrückten und Gefangenen, vor allem den Frauen, hat hier seinen Ursprung genommen. Wer Dacia Marainis literarisches Werk verstehen will, muss dieses Buch lesen. 

Dacia Maraini: Ein halber Löffel Reis.
Kindheit in einem japanischen Internierungslager. 
Übersetzung: Ingrid Ickler 
239 Seiten, Hardcover
Folio Verlag, 25 Euro

 

Tabuisiertes Leben 

Es ist eines der größten Tabus, das bis heute fortbesteht: Kinder, die während des Krieges und auch noch  “unerlaubt” gezeugt worden sind, zwischen deutschen Frauen und Zwangsarbeitern oder Soldaten der Alliierten während des Zweiten Weltkrieges und in der Zeit der Besatzung. Versteckt, verachtet, verprügelt und beschimpft. Kinder, die nicht wussten und nicht verstanden, warum sie derart als Aussätzige geschmäht wurden. 

Jetzt hat Monika Dittombée, geboren 1976, diesen Kindern eine Stimme gegeben. In ihrem Buch erzählt sie ihre Lebensgeschichten und holt sie damit aus der Tabuzone. Es sind bewegende Lebenswege, deren Prägung sich in den Überschriften zeigt: “Ich war der Bastard von der Alb” oder “Wir, die menschlichen Blindgänger des Zweiten Weltkriegs”. Monika Dittombée öffnet damit eine Möglichkeit, all die mit dem Tabuisieren verbundenen Verletzungen zu heilen, das Leid zu verstehen und Frieden zu schließen mit dem, was war, ohne es zu entschuldigen. Es ist ein Buch, das gerade in Zeiten wie diesen so wichtig ist, wo Krieg wieder in den Bereich des Möglichen rückt und damit auch Schicksale wie diese wieder alltäglich zu werden drohen. 

Monika Dittombée: Schattenschicksale. 
Lebenswege der Kriegskinder aus verbotenen Beziehungen – Geschichten des Überlebens
224 Seiten, Hardcover
Kösel Verlag, 22 Euro 

 

Ein wichtiger Dialog

Noch ein dunkles Kapitel deutscher Geschichte, das wie so oft jetzt ans Licht kommt, weil jemand in der Corona-Zeit den Dachboden oder Keller aufgeräumt und dabei eine Kiste mit brisantem Inhalt entdeckt hat. In diesem Fall war es ein Karton mit Briefen des berühmten Schauspielers Will Quadflieg an seine Frau Benita, die Tochter Roswitha 2011 nach dem Tod ihrer Mutter an sich nahm, aber erst in der Zeit des Lockdowns genauer untersuchte. Es waren 476 Briefe, geschrieben zwischen Januar 1934 und September 1946 sowie ein Tagebuch mit Aufzeichnungen zwischen März 1945 und September 1946, die an die geliebte Frau in der Ferne gerichtet sind. 

Roswitha, jüngstes der fünf Kinder von Will und Benita Quadflieg, eine bekannte Schriftstellerin und Buchgestalterin, konstruiert nun aus diesem Tagebuch und den Briefen einen Dialog mit dem 2003 verstorbenen Vater, den sie zu Lebzeiten nie geführt hat. Für alle, deren Eltern über die Nazi-Zeit nie gesprochen oder vielleicht auch nie ehrlich gesprochen haben, ist dieses Buch ein Muss. Und ebenso für die Enkel-Generation, die nicht mehr mit diesen Großeltern sprechen können, weil sie längst verstorben sind. Es ist gerade wegen der schrankenlosen Ehrlichkeit, mit der Roswitha Quadflieg diesen Dialog angeht, ein schmerzhaftes, aber auch befreiendes Buch. Und eine Aufforderung an die Großeltern von heute, sich den Fragen der Kinder und Enkel zu stellen, bevor es zu spät ist. 

Roswitha und Will Quadflieg: “Ich will lieber schweigen”
Das Tagebuch eines Schauspielers aus den Jahren 1945/46 und die Fragen seiner Tochter. 
298 Seiten, Hardcover mit Begleitheft
Kanon Verlag, 26 Euro 

 

Geschichte einer Jugend 

Nach den erfolgreichen Büchern über die Lebensgeschichte seiner Eltern ("Der Apfelbaum" und “Ada”) hat sich der Schauspieler und Autor Christian Berkel, bekannt aus Film und Fernsehen, jetzt der eigenen Kindheit und Jugend angenommen. Der Titel seiner fiktionalen Autobiografie kommt nicht von ungefähr: Sputniks waren die ersten, 1957 von der Sowjetunion ins All geschossenen Satelliten. Und “Sputnik” war der Spitzname des jungen Christian, der in eben diesem Jahr 1957 das Licht der Welt erblickte. 

Berkel, ein begnadeter Erzähler, schildert in diesem Roman die Geschichte einer Jugend, die noch geprägt war von der Nachkriegszeit, dem Spießertum der 1950er und 60er Jahre, und dem Aufbruch nach 1968 in eine freiere, neue Welt. Wer in dieser Zeit sozialisiert und groß geworden ist, wird in diesem Buch viele Déjà-vus entdecken, wird viel lachen und vielleicht auch ein bisschen weinen. Weil Christian Berkel es wie kaum ein anderer versteht, die Leserin und den Leser mitzunehmen in diese Zeit und seine Erlebnisse. Und so wird aus dieser ganz persönlichen Jugend auch ein Kaleidoskop der jüngsten Vergangenheit, das niemanden kalt lassen dürfte. 

Christian Berkel: Sputnik
384 Seiten, Hardcover
Ullstein Buchverlage, 26 Euro

 

Ein neuer Blick auf eine spannende Frau 

Sie polarisiert. Sie ist umstritten. Sie ist erfolgreich: Giorgia Meloni, seit 2022 Italiens Ministerpräsidentin. Jetzt hat sie ihre Autobiografie vorgelegt. Auch, um mit zahllosen Unterstellungen und Interpretationen aufzuräumen, die sie auf ihrem politischen Weg begleiten: “Ich habe zu viele Menschen über mich und meine Vorstellungen reden hören, um mir nicht darüber im Klaren zu sein, wie sehr ich und mein Leben in Wirklichkeit verschieden sind von dem, was man sich über mich erzählt. Und ich habe beschlossen, mich zu öffnen, in der ersten Person zu erzählen, wer ich bin, woran ich glaube und wie ich bis hierher gekommen bin”, schreibt sie zur Begründung für dieses Buch. 

Aufgewachsen ohne Vater in Rom mit der Mutter und einer Schwester und den Großeltern schildert sie mit ihrer Kindheit und Jugend gleichzeitig die Grundlagen für ihr politisches Engagement bei den “Fratelli d'Italia”. Und schon die Überschriften der sechs Kapitel charakterisieren sie bildhaft und selbstbewusst: “Ich bin Giorgia”, “Ich bin eine Frau”, “Ich bin eine Mutter”, “Ich bin rechts”, “Ich bin Christin”, “Ich bin Italienerin”. Man mag das egozentrisch nennen, es ist auf jeden Fall ehrlich. Und es erzählt mehr über die Erfolgsgeschichte dieser Politikerin als jedes Portrait es bisher vermochte. Es erzählt auch viel darüber, warum Meloni in Italien so beliebt und weltweit als Ministerpräsidentin geachtet und anerkannt ist. 

Giorgia Meloni: Ich bin Giorgia.
Meine Wurzeln, meine Vorstellungen
384 Seiten, Hardcover
Europa Verlag, 26 Euro

 

Überleben und Widerstand 

Die großen Hotels in den europäischen und überseeischen Metropolen waren in der Zeit des Zweiten Kriegskriegs ein Umschlagplatz zahlloser Schicksale. Und an der Bar in diesen Etablissements kondensierten Liebe und Verrat, Glück und Leid, Spionage und Widerstand. Dort trafen sich Exilanten ebenso wie hohe Militärs, Politiker, Kollaborateure, Künstler und Intellektuelle. Aus dieser Melange hat Philippe Collin einen spannenden Roman geschrieben, der sich süffig wie wenige liest und kaum noch wieder davon loskommen lässt. 

Diesen Barmann im legendären Pariser Hotel Ritz der 1940er Jahre gab es wirklich. Er hieß Frank Meier. Und er hütet ein brisantes Geheimnis: Er ist Jude. Wie also soll er umgehen mit dem, was er mehr oder weniger unfreiwillig bei Champagner und Cocktails, bei Whisky und Gin mithört? Wo muss er eingreifen, wo bringt er sich selbst damit in höchste Gefahr? Philippe Collin hat mit diesem Roman diesem Barkeeper und ebenso dem Ritz und der Atmosphäre dieser Zeit ein grandioses Denkmal gesetzt. 

Philippe Collin: Der Barmann des Ritz
Übersetzung: Amelie Thoma
447 Seiten, Hardcover
Insel Verlag, 25 Euro

 

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Mit dem Herzen gereist

Er hat es wieder getan. Wolfgang Büscher, der mit seinem 2009 erschienenen Bericht über seinen Fußmarsch auf den Spuren der Heeresgruppe Mitte “Berlin - Moskau” Reisejournalismusgeschichte geschrieben und dieses Genre mit verschiedenen weiteren Büchern über seine Wanderungen in aller Welt gewissermaßen neu erfunden hat, hat sich wieder mal aufgemacht. Dieses Mal aber nicht zu Fuß, sondern mit dem Geländewagen und auch nicht alleine, sondern in Begleitung von Einheimischen: eines Fahrers und eines Kochs. Aus Gründen: Die Region, die Büscher sich ausgesucht hat, war nicht ohne Risiken. Die Felswüste rund um das Massiv des Assekrem im Süden Algeriens mit einer Ausdehnung von der Größe Frankreichs liegt auf der Route aus dem afrikanischen Süden in den Norden, auf dem Weg zum Mittelmeer. “Sie sind dort eine Handelsware”, habe man ihm vorher gesagt, erzählt Büscher anlässlich seiner Buchvorstellung am 30. Januar 2025 im Hamburger Literaturhaus. Die Region sei riesig, das sei ihm vorher gar nicht so klar gewesen.

Es war ein Foto, das ihn auf die Spur gebracht hat. Das Foto einer mitten in einer Felswüste des Haggar-Gebirges einsam gelegenen Klause, vor hundert Jahren bewohnt von einem “Wüstenheiligen”: Charles de Foucauld, einem französischen Adelsspross aus extrem reichem Hause. Anfangs, wie es sich für die Haute Volée seinerzeit gehörte, als Offizier im Militär tätig, wurde Foucauld später zum Forscher und erkundete vor allem Marokko und den Hohen Atlas, den er erstmals überhaupt kartierte. Er lebte als Mönch und Einsiedler, beschäftigte sich intensiv mit der Geschichte und dem Leben der Tuareg und errichtete auf dem Hochplateau des Assekrem eine schlichte Einsiedelei. Davon hatte Büscher ein Foto gesehen und war fortan von der Idee beherrscht, genau dorthin zu reisen. 

Ursprünglich, so sagt er in Hamburg, habe er gar nicht so weit wegfahren wollen. Er habe eigentlich nur ein “kleines, stilles Buch schreiben wollen über das Unterwegssein", und zwar im Rahmen einer Wanderung auf der Via Appia von Rom nach Sizilien. Damit sei er allerdings kläglich gescheitert. Nach zwei Tagen schon war Schluss, denn: “Italienische Straßen haben keinen Seitenstreifen …”. Danach sei er auf das Foto, auf Foucauld und dessen verrückte Lebensgeschichte gestoßen. Und dann war klar: Es wird die Wüste: “Die Wüste ist ein einziger Seitenstreifen!” 

Und wieder gelingt es Wolfgang Büscher in diesem sehr besonderen Reisebericht, eine ganz eigene Welt zu erzeugen, einen Sog, dem man sich nicht entziehen kann. Er versteht es, eine Landschaft lebendig werden zu lassen, die so karg ist, so öde und leer, aber auch so großartig und gewaltig. Die von Menschen bewohnt und durchstreift wird, die sich seit Jahrhunderten darauf verstehen, sich an die extremen Bedingungen dort anzupassen. Büscher bringt uns eine ganz andere Wüste nahe, als wir sie von Kalenderblättern gewohnt sind. Es sind nicht die Sanddünen mit ihren weitschwingenden Formen, sondern spitze, hohe Felsnadeln, schroffe Wände, hochaufragende Schlote aus erloschenem Vulkangestein, schwarz glänzende Felsen in bizarren Formationen, lebensfeindliche Strukturen sich ins Unendliche dehnender Steinöden. Eine Wüste, in der der Wind die beherrschende Kraft ist, hoch oben auf 2000 m Höhe, wo Foucaulds Klause liegt, wo die Temperaturen oft unter die Nullgradgrenze fallen. Eine Wüste, wie wir sie so gar nicht kennen. 

Nicht nur einmal sehnt man sich beim Lesen trotz der einzigartigen Kunst Büschers, mit Worten Bilder zu malen, nach Fotos, nach einer Karte auch, um genauer zu erfassen, wo er sich da herumgetrieben hat. Aber gerade dass er sich solchen Anschauungsbeispielen verweigert, hat zur Folge, dass man sich mit dieser Region und auch mit Charles de Foucauld näher beschäftigt. Und drei Fotos zeigt er dann doch: Auf dem Umschlag das ramponierte Straßenschild nach Assekrem, auf der ersten Innenseite den betenden Mitfahrer inmitten einer endlosen Schotterwüste mit einer von irgendjemand verlorenen einsamen Gummisandale, und auf der rückwärtigen Innenseite die Foucauld'sche Klause auf dem Felsplateau. Schon diese drei Bilder genügen, um hineinzuziehen in dieses Buch, uns mit diesem Autor, dessen wunderbar eingehende Sprache so zwingend ist, auf den Weg zu machen. Es sind “Ansaugstutzen” für eine faszinierende Reise in eine Region, die uns so fremd ist und die uns Wolfgang Büscher auf seine eigene Weise nahezubringen versteht. Es ist, als schleiche sich die Faszination der Wüste unversehens mitten in unsere Seele. Weil Büscher nicht nur mit dem Herzen sieht, sondern auch mit dem Herzen reist und schreibt. Und wie bei allen Büscher-Reisen wird das Lesen deshalb auch eine Reise zu uns selbst. 

Wolfgang Büscher: Der Weg. Eine Reise durch die Sahara. 
240 Seiten
dtv Verlagsgesellschaft
Hardcover 24 Euro 
E-Book 19,99 Euro

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Herzerwärmend schwäbisch

Es gibt wohl niemand, der die schwäbische Lebensart so verkörpert wie Vincent Klink, Chef der legendären Wielandshöhe an der Alten Weinsteige in Stuttgart. Dem Genuss nie abhold, immer auf einen Abstecher in eine Wirtschaft bereit, mit Bewusstsein für Qualität, und dabei immer ein bisschen nachdenklich-besinnlich. Andere nennen das philosophisch, aber das wäre dem Vincent viel zu hochgestochen. 

Jetzt hat er - nachdem er schon seit Jahrzehnten Venetien durchreiste und daraus ein wunderbares, kenntnisreiches Buch entstand: “Ein Bauch spaziert durch Venedig” – sein Meisterwerk abgeliefert: “Mein Schwaben – Leben und Speisen im Ländle des Eigensinns". Es sind Ausflüge an besondere Orte dort in der Umgebung von Stuttgart bis runter an den Bodensee und nach Oberschwaben. Immer verbunden mit tiefgründigen, historisch bewanderten Erklärungen, vor allem aber mit einer Einkehr in ein besonders empfehlenswertes Restaurant (die Adressen werden dankenswerter Weise am Schluss alle aufgeführt, und seit Erscheinen des Buches dürften sich diese Häuser voller Gaststuben erfreuen) und ebenso mit Rezepten für die typisch schwäbische Küche, z.B. für Flädlessuppe, die berühmten Maultaschen oder den echt schwäbischen und deshalb unbedingt schlonzigen Kartoffelsalat (merke: niemals mit Mayonnaise!!). 

Wer verstehen will, warum dieser Landstrich seinen ganz eigenen Reiz, seine sehr besondere Historie und vor allem eine so gute Küche hat, der muss Vincent Klink lesen, besser noch: vorlesen, aber bitte mit schwäbischem Akzent, anders geht das nicht. Als in Stuttgart geborene Schwäbin, die seit über 50 Jahren in Hamburg zuhause ist, wird mir warm ums Herz, wenn ich dieses Buch in die Hand nehme. Es ist – wie die Küche der Wielandshöhe – ein Genuss. Und zwar von der ersten bis zur letzten Seite. 

Vincent Klink: Mein Schwaben. Leben und Speisen im Ländle des Eigensinns
320 Seiten, Hardcover
mit zahlreichen, handcolorierten Schwarz-Weiß-Fotos des Autors
Rowohlt Verlag, 28 Euro
E-Book 23,99 Euro

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