Die Zeit zwischen Heiligabend am 24. Dezember und dem Fest der Heiligen Drei Könige am 6. Januar gitl seit altersher als eine besondere Zeit. Eine Zeit, in dem wir dem Himmel ein bisschen näher sind als sonst, und in der uns der Himmel ein bisschen weiter offen steht als gewöhnlich. Es ist die Zeit der Rauhnächte, der Ruhe, der Besinnung, des Rückzugs vom Alltagsgeschehen und seiner Hektik. Und auch wenn die Wintersonnenwende am 21. Dezember davon kündet, dass die Sonne ihren Tiefpunkt im Jahreslauf erreicht hat, so sind die Nächte doch immer noch lang und kalt. Eine Zeit also, die wie geschaffen ist für ein gutes Buch. Hier ist eine Auswahl, die ich für besonders lesenswert halte.
Ein ungleiches Paar: Gabriele Münter und Wassily Kandinsky
Er galt bis zur Entdeckung des umfangreichen Werkes von Hilma af Klint als der Begründer der abstrakten Malerei: Wassily Kandinsky. In seinem Schatten stand viele Jahre lang seine Lebensgefährtin in der Zeit zwischen 1901 und 1914. In Murnau hatten sie ein Haus gekauft (von der Bevölkerung als das “Russenhaus” tituliert und heute ein sehenswertes Museum, in dem vieles noch so erhalten ist, wie es Gabriele Münter hinterlassen hat), in dem sie in “wilder Ehe” zusammenlebten, weitgehend gemieden vom Rest der Gesellschaft. Sie gründeten gemeinsam mit Franz Marc und anderen die Künstlergemeinschaft “Blauer Reiter”. Mit dem Ausbruch des 1. Weltkriegs kehrte Kandinsky nach Russland zurück. Die Hoffnung Gabriele Münters, dass er sich von seiner ersten Frau in Russland scheiden und sie heiraten würde (zu dieser Zeit war das für eine Frau die einzige Möglichkeit, gesellschaftlich anerkannt mit einem Mann zusammenzuleben), zerschlug sich damit. Münter reussierte in Skandinavien mit ihrer Malerei und kehrte 1920 nach Deutschland zurück. Kandinsky hatte sie zwischenzeitlich auch offiziell von ihr getrennt, was sie sehr getroffen hat. Es gäbe noch viel zu berichten über das ungleiche Leben der beiden Künstler, das würde jedoch einem Buch und ebenso einem Film vorgreifen, die beide gleichermaßen lesens- bzw. sehenswert sind.
Das Buch beruht auf den Recherchen von Alice Brauner und Heike Gronemeyer, die den Nachlass von Gabriele Münter durchforstet haben, ihre Briefe und Tagebücher, und die auch mit Zeitzeugen und Nachkommen gesprochen haben.
Der Film - so viel sei doch noch erwähnt – schildert Münters Leben vor allem aus der Sicht einer ungewöhnlichen, selbstständigen Frau, die sich ihren Weg in der künstlerischen Szene Anfang des 20. Jahrhunderts mühsam erkämpft (grandios als Hauptdarstellerin: Vanessa Loibl). Die enttäuscht wird von der selbstgefälligen Attitude eines Mannes, der ihr in der Malerei zwar ebenbürtig war, menschlich aber eben doch nicht. Das Buch wie der Film rühren gleichermaßen an und öffnen den Blick auf eine bedeutsame Künstlerin.
Alice Brauner, Heike Grönemeier: Münter & Kandinsky. Von der Macht der Farben und einer fatalen Liebe
336 Seiten, Hardcover
Penguin Verlag, 28,80 Euro
E-Book: 22,99 Euro
Münter & Kandinsky - der Film
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Das schwierige Ergründen der Vergangenheit
In diesen Jahren mehren sich die Bücher, die sich damit auseinandersetzen, welche Folgen die Wende 1989 für die Menschen gehabt haben, die schon in der Zeit davor die Flucht aus der DDR geschafft haben, und die sich dann nach der Wende schmerzlichen Wahrheiten stellen mussten. Eines dieser Bücher ist das von Margarethe Adler. Sie beschäftigt sich mit der Frage, was Flucht und Ausreise in den Westen für diejenigen bedeutet haben, die zurückbleiben mussten. Es ist ein Plädoyer für mehr Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit, auch wenn sie schmerzlich ist. In diesem Buch ist es – wie schon bei der Aufarbeitung der Nazi-Zeit zwischen 1933 und 1945 – die Generation der Enkelinnen und Enkel, die die unbequemen Fragen stellt, die nicht locker lässt auf der Suche nach der Wahrheit. Ein Buch, das für mehr Verständnis wirbt – auf allen Seiten.
Margarethe Adler: Die Stunde der Mauersegler
352 Seiten, Hardcover
C. Bertelsmann Verlag, 22 Euro
E-Book: 14,99, auch als Hörbuch erhältlich
Höre, was dein Herz dir sagt
Es ist das Übliche: Ein 51-jähriger Mann, Architekt von Beruf, klappt auf der Rolltreppe eines Zürcher Kaufhauses zusammen: Herzinfarkt. Dank den Segnungen der modernen Akutmedizin wird er gerettet. Und bekommt eine zweite Chance. Auch die Chance, sich mit seinem bisherigen Leben auseinanderzusetzen. Zu überlegen: Warum ist mir das passiert? Warum gerade jetzt? Denn Peter Munk, der Titelheld dieses Romans, hat alles andere als unvernünftig gelebt: Er raucht nicht, trinkt wenig Alkohol, er treibt Sport, ernährt sich gesund und sogar der berufliche Stress hält sich in Grenzen. Was also war hier los, dass ausgerechnet sein Herz versagt? Und so stellt sich Munk in der Zeit seiner Reha den elementaren Fragen seines bisherigen Lebens: Was war gut daran, was war verbesserungswürdig? Überhaupt: Was ist Leben? Was ist die Liebe? Und so überdenkt Munk die 13 (!) wesentlichen Liebesbeziehungen seines Lebens, manche kürzer, manche länger, aber alle prägend. Vorprägend auch für das Ereignis auf der Rolltreppe. Er lernt, Wesentliches von Unwesentlichem zu unterscheiden. Und er lernt, auf sein Herz zu hören. Ein großartiger Roman, dem die Lebensweisheit aus jeder Zeile spricht, ohne je aufdringlich oder besserwisserisch zu sein.
Jan Weiler: Munk
384 Seiten, Hardcover
Heyne Verlag, 24 Euro
E-Book: 19,90, auch als Hörbuch erhältlich
Unter die Lupe genommen
Es kommt selten vor, dass ein Roman von zwei Autoren gemeinsam geschrieben wird, in diesem Fall von zwei Autorinnen, geb. 1970 und 1976. Sie nehmen die deutsche Gesellschaft unserer Zeit unter die Lupe, indem sie den Zweispalt eines Journalisten schildern, die sich mangels Alternativen als Berater für Kommunikation bei einem populistischen Politiker verdingt. Was in seinem Umfeld, vor allem innerhalb seiner Familie, für hochgezogene Augenbrauen und heftige Anwürfe sorgt. Schließlich war er in einem liberalen Elternhaus aufgewachsen, mit Populismus (Frage: Was ist das eigentlich?!) hatte er bisher wenig zu tun. Donata Rigg und Claudia Klischat ist hier ein Roman gelungen, wie er aktueller nicht sein könnte. Bemerkenswert ist, dass die Arbeit an diesem Buch unterstützt wurde vom Bayerischen Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst, vom Programm Neustart Kultur der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien (bislang war das Claudia Roth von Bündnis 90/die GRÜNEN) sowie von der VG Wort. Leider wird im Buch zur Begründung, warum das so war und warum sich diese zwei Autorinnen zusammengetan haben, nichts gesagt.
Donata Rigg, Claudia Klischat: Zeitlang
624 Seiten, Hardcover
Ullstein Buchverlage, 26,99 Euro
E-Book 20,99 Euro
Meisterhafte Fotografien und eine große Liebe
Das ikonische Foto von Robert Capa eines von einer Kugel getroffenen Soldaten der republikanischen Armee im spanischen Bürgerkrieg ging um die Welt. Dass er eine Gefährtin hatte, die seine große Liebe war, und die ihm in der Meisterschaft der Fotografie in nichts nachstand, ist wenig bekannt. Und so ist es das große Verdienst von Caroline Bernard alias Tania Schlie, dass sie Gerda Taro mit diesem fiktiven, aber dennoch auf intensiven Recherchen beruhenden Roman aus der Vergessenheit geholt hat. Taro, die ursprünglich Gerta Pohorylle hieß, stammte aus einer jüdischen Familie und kämpfte schon früh gegen den Nationalsozialismus. 1933 floh sie vor den Nazis nach Paris und lernte dort Endre Friedmann kennen, aus dem später Robert Capa wurde. Die beiden vereinte die Liebe zur Fotografie und zueinander. Wie Capa fotografierte Gerda Taro im spanischen Bürgerkrieg, und leider starb sie dort, viel zu früh, am 26. Julli 1937, kurz vor ihrem 27. Geburtstag. Robert Capa hat sich von diesem Verlust nie wirklich erholt. “Gerda Taro war eine der ersten Frauen, die einen Krieg fotografiert haben”, sagt Caroline Bernard selbst über ihr Buch. “Sie ist eine der vielen »beklauten« Frauen, die Großes geleistet haben, deren Verdienste aber hinter denen von Männern verschwunden sind. In meinem Roman »Der Blick einer Frau« habe ich versucht, ihr ein Gesicht und eine Geschichte zu geben. (…) Sie ist eine der vielen Frauen, von denen wir mehr wissen und die wir uns als Vorbilder nehmen sollten: überaus mutig, mit einer festen Vorstellung davon, wie die Welt sein sollte, mit einer gewaltigen Lust auf das Leben und die Liebe.” Dieses Buch könnte zeitgemäßer kaum sein.
Caroline Bernard: Der Blick einer Frau. Sie riskierte ihr Leben, um die Welt zu verändern
384 Seiten, Hardcover
Rütten & Loening Verlag, 22 Euro
E-Book 16,99 Euro
Ein neuer Blick auf Ostafrika
Navid Kermani, hablilitierter Orientalist und in Köln lebender freier Schriftsteller, hat sich aufgemacht, den Osten Afrikas zu erkunden. Seine Reise führte ihn von Madagaskar über die Komoren, Mosambique, Tansania, Kenia und Äthiopien bis in den Sudan. Kermani beobachtet die Menschen dort, wie sie fliehen vor Hunger, Krieg und Dürre. Und wie sie dennoch allen Widernissen trotzen und auch noch schwierigsten Situationen etwas Positives abgewinnen, um ihm eine eigene Prägung zu geben. Navid Kermani ist hier ein neuer, ganz anderer Blick auf diesen von uns viel zu sehr vernachlässigten Kontinent gelungen. Seine feine Beobachtungsgabe bringt uns die Schönheit des Landes, aber auch seiner Bewohnerinnen und Bewohner, auf ihre Stärke und Kreativität nahe. Es öffnet den Blick auf eine Region, die von den Medien hierzulande sträflich vernachlässigt wird. Es sollte Pflichtlektüre für alle sein, die sich mit den Fragen unserer Zeit beschäftigen.
Navid Kermani: In die andere Richtung jetzt. Eine Reise durch Ostafrika
272 Seiten, Hardcover
C.H. Beck Verlag, 26 Euro
E-Book 19,99 Euro
Späte Einsichten
Die Lungenheilstätten Berlin-Beelitz sind Anfang des 20. Jahrhunderts ein Ort, wo Fabrikarbeiter/innen behandelt werden. Dort begenen sich 1907 die Arbeiterin Anna Brenner und die Schriftstellerin Johanna Schellmann. Anna hat besondere Fähigkeiten, sie gilt als hellsichtig, was auf Johanna eine besondere Faszination ausübt. Als Johanna versucht, Anna für ihre Zwecke einzspannen, verweigert sich die Freundin. Jahrzehnte später erst kommt Vanessa, die Urenkelin Johannas, den schicksalhaften Verflechtungen der beiden Frauenleben auf die Spur. Da ist Beelitz schon längst zum Luxus-Refugium geworden … Ulla Lenze ist hier ein spannender Roman gelungen, der einen tiefen Blick wirft auf zwei sehr gegensätzliche Frauenleben am Anfang des vergangenen Jahrhunderts, aber auch auf die Gegenwart.
Ulla Lenze: Das Wohlbefinden
336 Seiten, Hardcover
Klett Cotta Verlag, 25 Euro
E-Book 19,99 Euro, auch als Hörbuch erhältlich
Plaudereien im Kaffeehaus
Es gibt kaum einen Ort, wo so viel getratscht wird, wie ein Kaffeehaus. Bernd-Lutz Lange alias Richard Dumont setzt sich an den fiktiven Tisch eines solchen Etablissements und lässt sich ein auf spannende Begegnungen. Sie sind in diesem Buch festgehalten und reichen zeitlich von den 1920er Jahren bis heute. Und irgendwann weiß man nicht mehr zu unterscheiden zwischen möglicher Wahrheit und spinnerter Fiktion. Eine ebenso amüsante wie abwechslungsreiche Lektüre für lange Winterabende. Und eine Anregung, bald mal wieder ein Kaffeehaus aufzusuchen. Wer weiß, wer einem da begegnet … vielleicht verändert sich dadurch das eigene Leben?
Bernd-Lutz Lange: Café Continental. Geschichten und Plaudereien an Marmortischen
395 Seiten, Hardcover
Aufbau-Verlage, 22 Euro
E-Book 15,99 Euro
Thomas Mann revisited
Am 6. Juni 2025 jährt sich der Geburtstag des bedeutenden deutschen Schriftstellers zum 150. Mal – Grund genug für den Filmemacher Heinrich Breloer, sich der frühen Jahre Thomas Manns anzunehmen. Breloer, bekannt durch seine Filme “Die Manns” und “Buddenbrooks”, schildert hier die Annäherung des jungen Schriftstellers an Katia Pringsheim in den Jahren vor dem 1. Weltkrieg. Thomas Mann muss damals schmerzlich bewusst geworden sein, dass seine Homosexualität in krassem Widerspruch stand zu den gesellschaftlichen Zwängen. Wenn er also ein erfolgreicher Schriftsteller werden wollte (und mit den “Buddenbrooks” hatte er bereits erste Anerkennung erlangt), dann musste er eine Frau an seiner Seite haben. Es wurde, wie man weiß, eine lange, kinderreiche Ehe. Ohne Katia hätte Thomas Mann allerdings niemals den Ruhm erreicht, der ihm später zuteil wurde. Empfehlenswert in diesem Zusammenhang: die Dokumentation “Frau Thomas Mann” von Birgit Kienzle aus 2005, die auf YouTube einsehbar ist.
Heinrich Breloer: Ein tadelloses Glück. Der junge Thomas Mann und der Preis des Erfolgs
464 Seiten, Hardcover
DVA Deutsche Verlags Anstalt, 26 Euro
E-Book 22,99