Meisterköchen und -köchinnen auf die Finger zu gucken, dabeizusein, wenn sie Köstlichkeiten zaubern, die alle Sinne erfreuen, das fand ich, die selbst gerne kocht und lukullischen Genüssen zugetan ist, schon immer höchst reizvoll. Aber die meisten Küchenchefs lassen das nicht zu, und selbst in den in Mode gekommenen Küchen hinter Glas bekommt man von dem Treiben am Herd kaum etwas mit.
Im 100|200, mitten im ehemaligen Hamburger Freihafen, zwischen Hafenbecken, Elbbrücken und dem gerade entstehenden Elbtower (eine Art Wolkenkratzer, über dessen Existenzberechtigung man sehr geteilter Meinung sein kann), ist das anders. Dort sitzt man mitten in der Küche und kann den Köchen ungeniert auf die Finger gucken, während sie die erlesensten Köstlichkeiten zubereiten. Im Zentrum des Lofts in einem früheren Backstein-Lagerhaus, mitten in industrieller Hafeneinöde (die aber nicht mehr lange eine solche bleiben wird, denn die Stadt breitet sich zügig auf dem früher so rauhen Gelände aus), wo man nie ein Restaurant vermuten würde, steht ein wuchtiger Molteni-Herd, bei dem legendären Küchenhersteller in Italien nach eigenen Vorstellungen für Küchenchef Thomas Imbusch höchstpersönlich zusammengebaut. Gemeinsam mit seiner Frau Sophie Lehmann, die als Sommelière zuständig ist für die das Menü begleitenden Weine, aber ebenso für den "rauschfreien Geleitzug", wie die alkoholfreie Variante genannt wird, betreibt er das im September 2018 eröffnete Restaurant. Anfangs nur abends geöffnet, bietet es seit kurzem freitags und samstags auch mittags ein Menu an, das seinesgleichen sucht. "In der Einfachheit steckt die Komplexität" lautet das Motto, unter dem das ganze Unternehmen steht. Das gilt auch für die Einrichtung und die Ausstattung: massive Holzbretter tragen das feine Porzellan, das gehämmerte Silberbesteck, die dünnwandigen Gläser.
Dabei mussten die jungen Unternehmer ausgerechnet zu Beginn schwierige Zeiten durchstehen – die Lockdowns der Corona-Zeit waren nicht das, was man sich in der Aufbauphase wünscht, gerade mal zwei Jahre nach dem Start. Kreativität war gefordert, und Sophie Lehmann und Thomas Imbusch machten aus der Not eine Tugend: Sie kreierten eine "Grundkiste", bestehend aus verschiedenen Gerichten und Zutaten - z. B. Rindergulasch, Hamburger Aalsuppe, Sauerteigbrot, geräucherte Quarkbutter, eingelegtes Gemüse, Forellencreme und vielen anderen Köstlichkeiten. Sie konnte unter Einhaltung der strengen Abstandsregeln abgeholt werden oder wurde versandt. Damit konnten sie zum einen sich selbst über die Zeit retten, vor allem aber ihre Lieferanten unterstützen, die sonst auf ihren Erzeugnissen sitzengeblieben wären.
Und weil Thomas Imbusch und Sophie Lehmann nicht zufrieden waren mit den Ausbildungsstandards, die Köche normalerweise durchlaufen, gründeten sie kurzerhand die "Brandherd Esskultur Akademie". Dort reifen über drei Jahre hinweg junge Menschen heran, die sich mit Haut und Haar einer besonderen Gastgeberkultur in der Gastronomie verschreiben. Sie durchlaufen alle Stationen und können dabei ihren Fähigkeiten entsprechend herausfinden, ob sie später lieber in der Küche stehen oder im Service arbeiten, der ebenfalls ganzheitlich verstanden wird – als Dienstleistung am Gast im besten Sinne.
Von Anfang an haben Imbusch und Lehmann das gängige Restaurantkonzept gegen den Strich gebürstet, indem sie Reservierungen nur über ein Buchungssystem gegen Vorkasse entgegennehmen. Wer gebucht hat und nicht erscheint, bezahlt die reservierten Menüs in voller Höhe – der Betrag wurde ja schon mit der Reservierung von der Kreditkarte abgebucht. Dafür wurden sie schon x-mal zu Grabe getragen. Nie funktioniere das, hieß es oft, damit würden sie höchstens drei Monate überleben. Sie straften alle Unkenrufer Lügen. Denn genau diese konsequente Art, die gefürchteten "no-shows" zu vermeiden, hat sie gerettet. Anders, so scheint es, kann man in der Spitzengastronomie kaum noch bestehen. Schließlich gehen die Betreiber mit ihren hochwertigen Lebensmitteln in Vorleistung – da kommen schnell fünfstellige Beträge zusammen. "No shows" kann man sich da einfach nicht leisten. Und wer wirklich triftige Gründe hat, den gebuchten Termin nicht wahrnehmen zu können, setzt sich einfach rechtzeitig mit Sophie Lehmann in Verbindung – bisher wurde dann immer noch eine passende Lösung für das Problem gefunden.
Das 100|200 entwickelte sich rasch zur angesagten Adresse für alle, die beim Essen Wert auf das Besondere legen und sich gerne überraschen lassen. Sie geben Sophie Lehmann und Thomas Imbusch Carte Blanche für das vielgängige Menü, dessen Zusammensetzung nicht verändert werden kann. Gegessen wird, was auf den Tisch kommt. Aber gerade darin liegt der Reiz – hier hat man nicht die Qual der Wahl, hier kann man sich einfach zurücklehnen und sich dem Genuss hingeben, einer Exstase sinnlicher Geschmackserlebnisse. Kein Wunder, dass die Tester des Guide Michelin schnell gemerkt haben, dass hier wahre Meister am Werk sind – und so erhielt das 100|200 schon 2021 einen Stern, und 2022 gleich den zweiten hinterher. Bereits 2020 wurde es mit dem grünen Stern für Nachhaltigkeit ausgezeichnet, mit vier Hauben bei Gault&Millau und laut „50best Discovery“ gehört es zu den spannendsten Restaurants weltweit.
Viermal im Jahr wird das Menü völlig neu komponiert – den Jahreszeiten entsprechend und dem, was Land, Seen und Meer jeweils in besonderer Qualität zu bieten haben: zum Beispiel "Feld & Flur" (im Frühjahr), "Die Saison" (für die vegetarische Variante im Sommer), "Feuer & Rauch" (im Herbst). Und es versteht sich bei dieser Philosophie von selbst, dass ein geschlachtetes Tier "from nose to tail" verarbeitet wird. Das Rind steht ganzjährig im Freien auf der Weide und stirbt einen gnädigen Tod durch den gezielten Weideschuss. Das erklärt eine Fleischqualität, wie man sie selten erfahren darf. Fische und Meeresfrüchte liefert Karl Niehusen von "Hummer Pedersen" – wohl die beste Adresse, die man für derlei in Hamburg aufsuchen kann. Im Sommer gibt es ein rein vegetarisches Menü, dessen Zutaten von Gärtnereien und Bauern aus dem Hamburger Umland stammen, und das 100|200 dürfte das einzige Zwei-Sterne-Restaurant weit und breit sein, das alljährlich unter Beweis stellt, was eine fleisch- und fischlose Küche zu bieten vermag.
Jedes Menü beginnt an der Showbar mit einer Präsentation der Zutaten, die an diesem Mittag oder Abend verarbeitet wurden, zusammen mit einem Glas kalten Tomaten-Tee (eine Explosion von Tomatenaroma im Mund!) und einem raffinierten Appetithäppchen zur Einstimmung. Danach folgen fünf weitere Kleinigkeiten, um die Geschmacksknospen anzuregen: süß (geräucherte Zwiebel und Süßdolde), sauer (Sellerie und Rhabarber), salzig (Spitzkohl und Olive), bitter (Rettich und Kakaobohne) sowie umami (Deichkäseessenz und Sellerieöl). Schon das ist eine Sensation.
Aber dann geht es erst richtig los mit dem Genuss – und ein Kunstwerk folgt auf das andere. Jede Komponente ist aufs Feinste mit den anderen abgestimmt, so dass sich im Mund – vor allem in Kombination mit den exquisiten Weinen – Erstaunliches und bislang nie Erlebtes ereignet, bis hin zum Dessert, das das Hamburger Franzbrötchen ganz neu als gedrehte Brioche mit einer Vanillesahne zum Niederknien präsentiert.
Das ist aber nicht das Einzige, was das 100|200 so besonders macht. Es ist das Zusammenwirken der ausgesucht höflichen und kompetenten Service-Mitarbeiter mit den Köchen am Herd und den beiden Chefs. Da greift eines ins andere, lautlos und selbstverständlich, und wo Kommunikation nötig ist, erfolgt sie leise und wertschätzend. Schaut man dem Treiben zu, ergibt sich so eine nachgerade tänzerische Choreographie, begleitet von einer jeweils zur Saison neu zusammengestellten exquisiten Playlist, die für Fans bei Spotify auch zum Download bereitgestellt wird. Und so ist das 100|200 eben nicht nur ein Restaurant, sondern ein Gesamtkunstwerk, das Kopf, Herz und Bauch gleichermaßen erfreut.
Wem ein ganzes Menü zuviel ist, kann den "Stundentisch" für vier Gänge aus dem Menü der Saison buchen und auf Barhockern an der Fensterfront auf den Hafen und den Himmel schauen. Oder sich unangemeldet auf der Empore niederlassen, eine Flasche exzellenten Schaumwein vom Weingut Ziereisen in Baden bestellen und à la carte speisen. Zum Beispiel die "Kanalarbeiterschnitte", bestehend aus rohem Rindfleisch, Kartoffelpuffer, Crème fraîche und Kaviar. Oder "Hummer Thermidor und Bisque": einen ganzen Helgoländer Hummer mit Spinat, Champignons de Paris, Artischocke, Sauce Hollandaise und 72 Monate altem Gouda. Oder einen "Topf voll Glück": Geschmortes Herz, Lunge und Zunge vom Rind mit altem Essig und Königin-Pastete. Die Preise sind dem Standard entsprechend gehoben, der Genuss aber jeden Euro und jeden Cent wert.
100|200 Kitchen
Brandshofer Deich 68
20539 Hamburg
www.100200.kitchen