Es gibt wenige Bücher, die mich so fesseln, dass ich sie einen ganzen Sonntag lang nicht mehr aus der Hand lege. Dieses Buch von Arno Luik gehört dazu. Es sind Tagebuchaufzeichnungen, die eine Innen- und Außenschau zugleich sind. Eine Innenschau, weil Arno Luik uns hier ungeschminkt seine Gefühle angesichts der Krebsdiagnose zugänglich macht, die ihn im September 2022 nach einer Darmspiegelung ereilt hat und der Arzt ihm die niederschmetternde Mitteilung machte: „Setzen Sie sich, ich habe schlechte Nachrichten für Sie: Ich habe in Ihrem Darm einen ziemlich großen Tumor gefunden, ich konnte ihn nicht anheben, nicht entfernen, er ist wie eine Raupe in die Darmwand gewachsen. Ich lass das Gewebe noch analysieren, aber meine Erfahrung sagt mir: Es sieht ziemlich schlecht für Sie aus. Wenn Sie Glück haben, hat er noch nicht ausgestrahlt." Er schildert sein Ringen um den richtigen Weg, seine schlaflosen Nächte, das Entsetzen, die Ratlosigkeit – man kennt das so oder so ähnlich schon von anderen Autoren, und doch berührt es noch einmal ganz neu, wenn Arno Luik es erzählt.
Und eine Außenschau ist es, weil er als Journalist natürlich nicht aus seiner Haut kann und neben dem inneren Befinden auch das Zeitgeschehen kommentiert. Und gerade da spricht er mir voll aus dem Herzen. Endlich nimmt mal jemand kein Blatt vor den Mund. Endlich sagt bzw. schreibt einer, was ist (Rudolf Augstein hat das mal seinem SPIEGEL ins Stammbuch geschrieben: "Sagen, was ist" – leider hält sich das Magazin schon lange nicht mehr so richtig an diese Leitlinie). Die Passagen, in denen sich Arno Luik über den politisch-moralischen Verfall der Grünen auslässt, sind beispielhaft ehrlich, gerade heraus und wahr. Und wie wunderbar, dass er angesichts des Militarismus, der sich derzeit – mit den Grünen als Vorreiterinnen und Vorreiter!! – in unserem Land breitmacht, an die großartige Philippika für den Frieden von Rolf Winter erinnert, die anlässlich des Balkankonflikts 1995 in der taz erschienen ist! Lange musste Arno, der damals der taz als Chefredakteur vorstand, dafür kämpfen, dass sie überhaupt abgedruckt werden konnte – ein Armutszeugnis für die taz, die seinerzeit ja durchaus noch recht diskussionsfreudig war. Die Auseinandersetzung um diesen Text, der dann nur mit einer Gegenposition von Thomas Schmid (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Autor der WELT) publiziert werden konnte, hat wesentlich mit dazu beigetragen, dass Luik der taz wenig später Adieu sagte.
Aufgefallen ist er mir in den Jahren danach mit einer Reportage für das ZEIT-Magazin über die B1, die aus dem Westen Deutschlands in den Osten führt. Was für eine tolle Idee, gerade in den frühen Jahren nach der Wiedervereinigung diese Route abzufahren! Erzählen, das kann er, der Arno Luik. Er hat ein wunderbares Gefühl für Details und eine große Liebe zur Sprache (weshalb er nichts vom Sternchen- oder Doppelpunkt-Gendern hält). Am bekanntesten jedoch wurde er mit seinen Interviews, die er für den STERN führte. Legendär sein Dialog mit dem Wissenschaftler Erwin Chargaff kurz vor dessen Tod 2002, mit der damals bereits über 80-jährigen Schriftstellerin Angelika Schrobsdorff (1927-2016) im Jahr 2008, oder 2011 mit dem im Sterben liegenden Familientherapeuten und Pädagogen Wolfgang Bergmann. Arno Luik hat es dabei stets verstanden, seinen Gesprächspartnern Äußerungen zu entlocken, die sie sonst nicht so leicht preisgegeben hätten. Er kam ihnen nahe, ohne ihnen zu sehr auf die Pelle zu rücken – er hatte immer Respekt vor dem anderen, vor der Persönlichkeit seines Gegenübers.
Ein besonderes Highlight war auch 2007 das Interview mit Hartmut Mehdorn, dem damaligen Bahnchef, der zu Luik sagte: "Ich würde Sie ja gerne hauen. Aber Schläge bringen nichts, Sie bleiben ja doch bei Ihrer Meinung." Blieb er tatsächlich. Und schrieb für den STERN ein flammendes und mit vielen bis dahin wenig bekannten Fakten gespicktes Plädoyer gegen den Wahnsinn von "Stuttgart 21". Leider hat das auch nicht bewirken können, dass dieses Projekt gestoppt wurde. Aber Luik legte nach und schrieb mit der ihm eigenen Akkuratesse 2019 gleich ein ganzes Buch, eine der wichtigsten und besten Analysen zu dem Desaster bei der Deutschen Bahn: "Schaden in der Oberleitung". Darin geht es um Lobbyismus und noch einmal um Stuttgart 21, um Hochgeschwindigkeitszüge und falsche Weichenstellungen, kurz, wie der Verlag schreibt, um "einen Staatskonzern, der außer Kontrolle geraten ist". Luiks Fazit: „Der Zustand der Deutschen Bahn ist kein Versehen. Es gibt Täter. Sie sitzen in der Bundesregierung, im Bundestag. Und seit Jahren im Tower der Deutschen Bahn."
Allerdings gebe ich zu, dass ich mit den Interviews von Arno Luik manchmal auch gehadert habe. Da beschlich mich dann der Verdacht, dass da jemand einen Fragenkatalog abarbeitet, den er sich mit einer exorbitant aufwendigen Vorrecherche zurechtgelegt hat – für diese penible Vorarbeit war Luik bekannt. Wochenlang beschäftigte er sich eingehend mit demjenigen, dem er sich fragend nähern wollte – als freie Journalistin, bei der Zeit immer auch Geld ist, habe ich ihn darum oft beneidet ... Aber wie es dann eben so ist, bei einer derart umfassenden Vorarbeit kann die Spontaneität des Gesprächs eben auch mal auf der Strecke bleiben (zumindest für mein Gefühl) – oder sie fiel der redaktionellen Bearbeitung zum Opfer, wer weiß das schon. Viele wichtige Interviews hat Arno Luik inzwischen in einem eigenen Buch versammelt: "Als die Mauer fiel, war ich in der Sauna"– ein Zitat aus dem Gespräch mit Angela Merkel. Mein Respekt für sein Können ist jedoch immer geblieben. Auch weil er ein so aufrichtiger, meinungsstarker Kollege ist. Weil er – wie ich – aus Süddeutschland stammt, nur drei Jahre jünger ist als ich und diesen schwäbischen Schalk im Nacken hat, der immer wieder auch in seinen Gesprächen durchblitzt.
Sein bestes Interview jedoch führt Arno Luik mit sich selbst. In diesem Buch, das den schönen Titel "Rauhnächte" trägt. Denn sie sind rauh und dunkel, diese Nächte, in denen er immer wieder aufwacht, wach liegt, Alpträume hat. Eine Serie von Bestrahlungen und auch die Chemotherapie hat er inzwischen hinter sich gebracht – zu letzterer schildert er im Buch nur die ersten Tage (die Einträge enden am 1. Januar 2023), gedauert hat sie – sofern er sie nicht abgebrochen hat – wohl bis in den März 2023, weshalb diese Erlebnisse nicht mehr im Buch gespiegelt werden. Und unverzüglich sehnt man sich danach, zu erfahren, wie es weitergegangen ist. Lieber Arno, bitte schreiben Sie weiter Tagebuch. Bitte kommentieren Sie auch fürderhin das Zeitgeschehen. Und bitte lassen Sie uns auf die Fortsetzung nicht zu lange warten.
Arno Luik: Rauhnächte. Westend Verlag, 2023. Hardcover, 192 Seiten, 22 Euro