Annette Bopp Navigation
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Sie sind hier: FrolleinDoktor - das Blog

Anregende Lektüre ohne Risiken, aber mit Nebenwirkungen. Rezeptfrei in Ihrem Internet. Machense sich doch schon mal frei.

Das ist die Fortsetzung meines Blogs, das ich Anfang 2020 mit Beginn der Corona-Krise weitgehend eingestellt habe – vor allem aus technischen Gründen, die Software lief nicht mehr zuverlässig. Seit Frühjahr 2023 hat es seinen Schlaf endlich beendet und erwacht hier zu neuer Schönheit. Die einzelnen Rubriken sind noch nicht alle wieder befüllt, das wird sich aber mit der Zeit ändern. Kommentare sind auf dieser Seite nicht möglich – wer etwas anmerken will, schickt mir einfach eine E-Mail. Respektvolle Mails beantworte ich gerne – ich achte andere Meinungen und setze mich gern damit auseinander. Pöbelige Schmährufe wandern jedoch sofort in den Papierkorb. Der Name "FrolleinDoktor" ist ein satirisch gemeinter Spitzname und stellt keinen Doktortitel oder medizinischen Status dar. 

 

Beklemmender Rückblick

Das Plakat zum Film
Alexander Kluge bei den Dreharbeiten
Alexandra Kluge als Anita in "Abschied von gestern"
Alexandra Kluge als Anita in "Abschied von gestern"

Schon seit Mitte Oktober ist ein Film im Kino, der einen beklemmenden Rückblick in das Deutschland (Ost wie West) der 1960er Jahre darstellt: "Abschied von gestern" von Alexander Kluge aus 1966. Der Inhalt ist rasch umrissen: Eine junge Frau (gespielt von Alexandra Kluge, der Schwester des Regisseurs), als Kind jüdischer Eltern 1937 in Leipzig geboren und dort lebend, flieht in den Westen, weil sie sich dort ein freieres Leben erhofft. Aber rasch gerät sie mit der spießigen, kleinbürgerlichen Situation in Konflikt, beginnt zu klauen, wird erwischt und verurteilt. Aus dem Knast entlassen, versucht sie, sich neu und besser zu orientieren. Als Vertreterin einer Plattenfirma schwatzt sie Kunden überflüssiges Zeug auf, fälscht Aufträge, lässt sich auf eine Liebschaft mit ihrem verheirateten Chef ein, lebt über ihre Verhältnisse. Und natürlich kommt es, wie es kommen muss: Der Chef zeigt sie an, wieder muss sie eine Zeitlang ins Gefängnis. Danach beginnt sie ein Studium, stürzt sich in eine Verbindung mit einem verheirateten Beamten. Und natürlich findet sie auch da nicht, was sie sucht. Und so kann der Abschied von gestern, von der Vergangenheit, nicht das werden, was er sein soll: ein Neubeginn, eine Zukunft. 

Als der Film 1966 erstmals in die Kinos kam, grenzte das schon fast an einen Skandal – deckte er doch schonungslos all das verkrampfte, verspießerte Getue auf, das die Gesellschaft seinerzeit dominierte. Man kann sich das heute kaum noch vorstellen, wie eng der Horizont war, in dem sich das Leben abspielte. Kein Wunder, dass er als Klassiker des "Neuen Deutschen Films" gilt und bei den Internationalen Filmfestspielen in Venedig 1966 den Silbernen Löwen gewann sowie in der Folge zahlreiche weitere Auszeichnungen. 

Wer verstehen möchte, warum die Jugend 1968 die großen Proteste lostrat, wer eine Ahnung davon bekommen will, wie sich der Muff von 1000 Jahren nicht nur unter den Talaren zeigte, sondern gleichermaßen in jedem deutschen Wohnzimmer, in jeder deutschen Familie, der schaue sich dringend diesen Film an. Er ist ein zeitloses Dokument einer unschönen Zeit, in der die früheren Nazis – von der Öffentlichkeit weitgehend ignoriert – in alten Pfründen des gesellschaftichen Lebens fröhliche Urständ' feierten. 

 

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Ein meisterliches Gesamtkunstwerk

Blick in die Küche
Von der Empore kann man dem Küchenchef bei der Arbeit zuschauen.
Appetithappen
Appetithappen an der Showbar
Quarkbutter
Die Quarkbutter mit Kräuter- und Chiliöl im Motto der Saison – sie wird zusammen mit Sauerteigbrot gereicht.
Süppchen
Sardellen
Käsetoast
Der legendäre Imbusch'sche Käsetoast auf geröstetem Brot mit altem Deichkäse und gehobeltem Champignon darf bei keinem Menü fehlen.
Liebesknochen
Nicht minder legendär ist der "Liebesknochen" mit Kaviar und Rindermark.
Rote Bete
Rote Bete auf sehr spezielle Art.
Kaisergranat
Das Kaisergranat war Bestandteil der Saison "Wasser & Salz" im Sommer 2023.
Nachtisch
Eine sehr besondere Dessertkomposition.
Digestif
"Der Rausch gehört zum Leben dazu" - eines der Motti des 100|200. Hier bildet ein exquisiter Liebstöckl-Brand als Digestif den Abschluss eines opulenten Mahls.

Meisterköchen und -köchinnen auf die Finger zu gucken, dabeizusein, wenn sie Köstlichkeiten zaubern, die alle Sinne erfreuen, das fand ich, die selbst gerne kocht und lukullischen Genüssen zugetan ist, schon immer höchst reizvoll. Aber die meisten Küchenchefs lassen das nicht zu, und selbst in den in Mode gekommenen Küchen hinter Glas bekommt man von dem Treiben am Herd kaum etwas mit. 

Im 100|200, mitten im ehemaligen Hamburger Freihafen, zwischen Hafenbecken, Elbbrücken und dem gerade entstehenden Elbtower (eine Art Wolkenkratzer, über dessen Existenzberechtigung man sehr geteilter Meinung sein kann), ist das anders. Dort sitzt man mitten in der Küche und kann den Köchen ungeniert auf die Finger gucken, während sie die erlesensten Köstlichkeiten zubereiten. Im Zentrum des Lofts in einem früheren Backstein-Lagerhaus, mitten in industrieller Hafeneinöde (die aber nicht mehr lange eine solche bleiben wird, denn die Stadt breitet sich zügig auf dem früher so rauhen Gelände aus), wo man nie ein Restaurant vermuten würde, steht ein wuchtiger Molteni-Herd, bei dem legendären Küchenhersteller in Italien nach eigenen Vorstellungen für Küchenchef Thomas Imbusch höchstpersönlich zusammengebaut. Gemeinsam mit seiner Frau Sophie Lehmann, die als Sommelière zuständig ist für die das Menü begleitenden Weine, aber ebenso für den "rauschfreien Geleitzug", wie die alkoholfreie Variante genannt wird, betreibt er das im September 2018 eröffnete Restaurant. Anfangs nur abends geöffnet, bietet es seit kurzem freitags und samstags auch mittags ein Menu an, das seinesgleichen sucht. "In der Einfachheit steckt die Komplexität" lautet das Motto, unter dem das ganze Unternehmen steht. Das gilt auch für die Einrichtung und die Ausstattung: massive Holzbretter tragen das feine Porzellan, das gehämmerte Silberbesteck, die dünnwandigen Gläser. 

Dabei mussten die jungen Unternehmer ausgerechnet zu Beginn schwierige Zeiten durchstehen – die Lockdowns der Corona-Zeit waren nicht das, was man sich in der Aufbauphase wünscht, gerade mal zwei Jahre nach dem Start. Kreativität war gefordert, und Sophie Lehmann und Thomas Imbusch machten aus der Not eine Tugend: Sie kreierten eine "Grundkiste", bestehend aus verschiedenen Gerichten und Zutaten - z. B. Rindergulasch, Hamburger Aalsuppe, Sauerteigbrot, geräucherte Quarkbutter, eingelegtes Gemüse, Forellencreme und vielen anderen Köstlichkeiten. Sie konnte unter Einhaltung der strengen Abstandsregeln abgeholt werden oder wurde versandt. Damit konnten sie zum einen sich selbst über die Zeit retten, vor allem aber ihre Lieferanten unterstützen, die sonst auf ihren Erzeugnissen sitzengeblieben wären. 

Und weil Thomas Imbusch und Sophie Lehmann nicht zufrieden waren mit den Ausbildungsstandards, die Köche normalerweise  durchlaufen, gründeten sie kurzerhand die "Brandherd Esskultur Akademie". Dort reifen über drei Jahre hinweg junge Menschen heran, die sich mit Haut und Haar einer besonderen Gastgeberkultur in der Gastronomie verschreiben. Sie durchlaufen alle Stationen und können dabei ihren Fähigkeiten entsprechend herausfinden, ob sie später lieber in der Küche stehen oder im Service arbeiten, der ebenfalls ganzheitlich verstanden wird – als Dienstleistung am Gast im besten Sinne. 

Von Anfang an haben Imbusch und Lehmann das gängige Restaurantkonzept gegen den Strich gebürstet, indem sie Reservierungen nur über ein Buchungssystem gegen Vorkasse entgegennehmen. Wer gebucht hat und nicht erscheint, bezahlt die reservierten Menüs in voller Höhe – der Betrag wurde ja schon mit der Reservierung von der Kreditkarte abgebucht. Dafür wurden sie schon x-mal zu Grabe getragen. Nie funktioniere das, hieß es oft, damit würden sie höchstens drei Monate überleben. Sie straften alle Unkenrufer Lügen. Denn genau diese konsequente Art, die gefürchteten "no-shows" zu vermeiden, hat sie gerettet. Anders, so scheint es, kann man in der Spitzengastronomie kaum noch bestehen. Schließlich gehen die Betreiber mit ihren hochwertigen Lebensmitteln in Vorleistung – da kommen schnell fünfstellige Beträge zusammen. "No shows" kann man sich da einfach nicht leisten. Und wer wirklich triftige Gründe hat, den gebuchten Termin nicht wahrnehmen zu können, setzt sich einfach rechtzeitig mit Sophie Lehmann in Verbindung – bisher wurde dann immer noch eine passende Lösung für das Problem gefunden.

Das 100|200 entwickelte sich rasch zur angesagten Adresse für alle, die beim Essen Wert auf das Besondere legen und sich gerne überraschen lassen. Sie geben Sophie Lehmann und Thomas Imbusch Carte Blanche für das vielgängige Menü, dessen Zusammensetzung nicht verändert werden kann. Gegessen wird, was auf den Tisch kommt. Aber gerade darin liegt der Reiz – hier hat man nicht die Qual der Wahl, hier kann man sich einfach zurücklehnen und sich dem Genuss hingeben, einer Exstase sinnlicher Geschmackserlebnisse. Kein Wunder, dass die Tester des Guide Michelin schnell gemerkt haben, dass hier wahre Meister am Werk sind – und so erhielt das 100|200 schon 2021 einen Stern, und 2022 gleich den zweiten hinterher. Bereits 2020 wurde es mit dem grünen Stern für Nachhaltigkeit ausgezeichnet, mit vier Hauben bei Gault&Millau und laut „50best Discovery“ gehört es zu den spannendsten Restaurants weltweit. 

Viermal im Jahr wird das Menü völlig neu komponiert – den Jahreszeiten entsprechend und dem, was Land, Seen und Meer jeweils in besonderer Qualität zu bieten haben: zum Beispiel "Feld & Flur" (im Frühjahr), "Die Saison" (für die vegetarische Variante im Sommer), "Feuer & Rauch" (im Herbst). Und es versteht sich bei dieser Philosophie von selbst, dass ein geschlachtetes Tier "from nose to tail" verarbeitet wird. Das Rind steht ganzjährig im Freien auf der Weide und stirbt einen gnädigen Tod durch den gezielten Weideschuss. Das erklärt eine Fleischqualität, wie man sie selten erfahren darf. Fische und Meeresfrüchte liefert Karl Niehusen von "Hummer Pedersen" – wohl die beste Adresse, die man für derlei in Hamburg aufsuchen kann. Im Sommer gibt es ein rein vegetarisches Menü, dessen Zutaten von Gärtnereien und Bauern aus dem Hamburger Umland stammen, und das 100|200 dürfte das einzige Zwei-Sterne-Restaurant weit und breit sein, das alljährlich unter Beweis stellt, was eine fleisch- und fischlose Küche zu bieten vermag.

Jedes Menü beginnt an der Showbar mit einer Präsentation der Zutaten, die an diesem Mittag oder Abend verarbeitet wurden, zusammen mit einem Glas kalten Tomaten-Tee (eine Explosion von Tomatenaroma im Mund!) und einem raffinierten Appetithäppchen zur Einstimmung. Danach folgen fünf weitere Kleinigkeiten, um die Geschmacksknospen anzuregen: süß (geräucherte Zwiebel und Süßdolde), sauer (Sellerie und Rhabarber), salzig (Spitzkohl und Olive), bitter (Rettich und Kakaobohne) sowie umami (Deichkäseessenz und Sellerieöl). Schon das ist eine Sensation. 

Aber dann geht es erst richtig los mit dem Genuss – und ein Kunstwerk folgt auf das andere. Jede Komponente ist aufs Feinste mit den anderen abgestimmt, so dass sich im Mund – vor allem in Kombination mit den exquisiten Weinen – Erstaunliches und bislang nie Erlebtes ereignet, bis hin zum Dessert, das das Hamburger Franzbrötchen ganz neu als gedrehte Brioche mit einer Vanillesahne zum Niederknien präsentiert. 

Das ist aber nicht das Einzige, was das 100|200 so besonders macht. Es ist das Zusammenwirken der ausgesucht höflichen und kompetenten Service-Mitarbeiter mit den Köchen am Herd und den beiden Chefs. Da greift eines ins andere, lautlos und selbstverständlich, und wo Kommunikation nötig ist, erfolgt sie leise und wertschätzend. Schaut man dem Treiben zu, ergibt sich so eine nachgerade tänzerische Choreographie, begleitet von einer jeweils zur Saison neu zusammengestellten exquisiten Playlist, die für Fans bei Spotify auch zum Download bereitgestellt wird. Und so ist das 100|200 eben nicht nur ein Restaurant, sondern ein Gesamtkunstwerk, das Kopf, Herz und Bauch gleichermaßen erfreut. 

Wem ein ganzes Menü zuviel ist, kann den "Stundentisch" für vier Gänge aus dem Menü der Saison buchen und auf Barhockern an der Fensterfront auf den Hafen und den Himmel schauen. Oder sich unangemeldet auf der Empore niederlassen, eine Flasche exzellenten Schaumwein vom Weingut Ziereisen in Baden bestellen und à la carte speisen. Zum Beispiel die "Kanalarbeiterschnitte", bestehend aus rohem Rindfleisch, Kartoffelpuffer, Crème fraîche und Kaviar. Oder "Hummer Thermidor und Bisque": einen ganzen Helgoländer Hummer mit Spinat, Champignons de Paris, Artischocke, Sauce Hollandaise und 72 Monate altem Gouda. Oder einen "Topf voll Glück": Geschmortes Herz, Lunge und Zunge vom Rind mit altem Essig und Königin-Pastete. Die Preise sind dem Standard entsprechend gehoben, der Genuss aber jeden Euro und jeden Cent wert. 

 

100|200 Kitchen
Brandshofer Deich 68
20539 Hamburg 
www.100200.kitchen

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Zeitlose Liebe

Plakat
Das Filmplakat (c) Alamode Film
Fanny Ardant
Fanny Ardant als Shauna
Melvil Poupaud, Fanny Ardant
Melvil Poupaud als Pierre, Fanny Ardant als Shauna (c) Alamode Film
Fanny Ardant, Melvil Poupaud
Fanny Ardant, Melvil Poupaud (c) Alamode Film

Vor kurzem ist in den Kinos ein Film angelaufen, der besondere Aufmerksamkeit und viele Besucherinnen verdient: "Im Herzen jung" mit Fanny Ardant und Melvil Poupaud in den Hauptrollen. Ardant, inzwischen 74 Jahre alt, spielt darin die altersgleiche Architektin Shauna, die im Herbst ihres Lebens noch einmal der Liebe begegnet – zu Pierre, einem 30 Jahre jüngeren Mann. Es ist einer der berühmten Zufälle, der die beiden zueinanderführt. Pierre ist der Arzt, der die im Sterben liegende beste Freundin von Shauna im Krankenhaus in Lyon medizinisch betreut, gleichzeitig ein guter Freund seines Kollegen Georges, dem Sohn der Schwerkranken, die nicht weiter in Erscheinung tritt. Es sind nur wenige Minuten, sie trinken einen Kaffee zusammen. Und doch ist es eine Begegnung, die beide nicht vergessen, die aber vorerst keine weiteren Folgen hat. Pierre ist glücklich verheiratet mit Jeanne. Die beiden haben eine Tochter, in den kommenden Jahren kommt ein zweites Kind zur Welt, stirbt aber kurz nach der Geburt. Etwas später wird ein Sohn geboren. 

Erst 15 Jahre später kommen Pierre und Shauna – zufällig – wieder zusammen, als Georges, Pierre, der mittlerweile ein angesehener Onkologe ist, und eine weitere Kollegin einen Kongress in Dublin besuchen. Georges bittet Pierre, ihn nach Cork zu begleiten, wo er das Ferienhaus seiner Mutter besuchen will. Als sie in Wind und Wetter dort ankommen, öffnet Shauna ihnen die Tür – sie hat sich des Hauses in den vergangenen Jahren angenommen und ist immer wieder dort, wenn sie nicht in Paris zu tun hat. Sie erkennt Pierre nicht sofort wieder, er sie aber schon. Es folgt eine Nacht der Gespräche, der wechselseitigen Anziehung und des gegenseitigen Verstehens, aber beide halten Distanz und tauschen nur die Telefonnummern aus. Am nächsten Tag fahren Georges und Pierre wieder ab und kehren nach Lyon zurück. 

Irgendwann ruft Pierre Shauna an – er kommt nach Paris, um seine neuen Forschungsergebnisse zu präsentieren. Er lässt seinen Zug  sausen und verabredet sich mit Shauna, die an diesem Abend bei ihrer erwachsenen Tochter und deren Tochter zum Essen eingeladen ist. Die beiden nähern sich an, und Pierre übernachtet bei Shauna, bevor er am nächsten Tag nach Lyon zurückkehrt. 

Und so beginnt eine Lovestory der besonderen Art, denn beide wissen nicht, wie es weitergehen soll und wird. Umso weniger, als Shauna an Parkinson erkrankt ist und über kurz oder lang auf Hilfe angewiesen sein wird, was sie Pierre nicht zumuten will. Pierre wiederum muss damit fertigwerden, dass er durch seine Liebe zu Shauna, die er nicht mehr verbergen kann, seine kleine Familie vor den Kopf stößt und die Trennung von Jeanne unausweichlich wird. Aber allen Widrigkeiten und gesellschaftlichen Hindernissen zum Trotz finden die beiden schließlich doch zueinander – und das auf so glaubhaft würdige Art und Weise, dass diese Geschichte nie ins Kitschige abgleitet. 

Fanny Ardant spielt diese Shauna mit großer Kraft, aber auch großer Zerbrechlichkeit. Wie sie zögert, bevor sie sich auf Pierre einlässt, wie sie mit sich hadert, weil sie natürlich weiß, dass der große Altersunterschied und ihre Krankheit für beide zum Problem werden kann, vor allem, was ihre Freunde und Familien betrifft, das ist große Schauspielkunst. In ihrem Gesicht ist alles eingeschrieben, was eine Frau an Gefühlen in dieser Situation bewegen kann: Sehnsucht, Glück, Hingabe, Vertrauen, aber auch Angst, Verzweiflung, Zorn, Ohnmacht, Hilflosigkeit. Ein großartiger Film, ein großartiges Ensemble, eine souveräne Regie und eine hochsensible Kameraführung. Und ein Beweis, dass Liebe kein Alter kennt. 

Tipp: Den Film möglichst im französischen Original anschauen – die Stimmen sind so wichtig! 

IM HERZEN JUNG (Original: Les Jeunes Amants) 
Regie: Carine Tardieu
Drehbuch: Agnès de Sacy, Carine Tardieu, Sólveig Anspach
Kamera: Elin Kirschfink 
Shauna: Fanny Ardant
Pierre: Melvil Poupaud
Jeanne: Cécile de France 

Trailer (OmU)

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Reise in die Vergangenheit

Immer wieder ist es die Generation der Enkelinnen und Enkel, die so manches Familiengeheimnis enthüllt. In diesem Fall ist es die niederländische Autorin Lisa Weeda, deren 94-jährige Großmutter Aleksandra sie auf die Reise zu ihrem Geburtsort schickt: nach Luhansk in der Ostukraine. Es ist eine Gegend, die schon seit vielen Jahrzehnten geprägt ist von Unruhen, Streit, Kämpfen und Konflikten verschiedenster Art. Lisa soll dort nach dem Verbleib ihres Onkels Kolja forschen, der seit 2015 verschollen ist. Und so entfaltet die junge Frau vor dem Hintergrund der gewalttätigen Historie dieses Landstrichs ein ganz eigenes Panorama ihrer Familie und damit gleichzeitig auch des Landes, in dem sie ihre Wurzeln hat. 

Natürlich gewinnt dieses Abenteuer angesichts des Krieges in der Ukraine eine besondere Aktualität und Dimension. Aber auch ohne dieses dramatische Geschehen wäre dieses Buch eine wichtige Lektüre – vor allem für die jüngere Generation. Denn Großmütter wie Aleksandra haben nur noch ganz wenige. Lisa Weeda gelingt es, ihrem Roman nicht zuletzt durch ihre Sprache (Übersetzung: Birgit Erdmann) eine sehr eigene Faszination einzuhauchen. Kein Wunder, dass das Buch bereits in viele andere Sprachen übersetzt wurde. 

Lisa Weeda: Aleksandra. Kanon Verlag, 288 Seiten, 25 Euro (auch als E-Book und Hörbuch erhältlich) 

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Sein bestes Interview

Es gibt wenige Bücher, die mich so fesseln, dass ich sie einen ganzen Sonntag lang nicht mehr aus der Hand lege. Dieses Buch von Arno Luik gehört dazu. Es sind Tagebuchaufzeichnungen, die eine Innen- und Außenschau zugleich sind. Eine Innenschau, weil Arno Luik uns hier ungeschminkt seine Gefühle angesichts der Krebsdiagnose zugänglich macht, die ihn im September 2022 nach einer Darmspiegelung ereilt hat und der Arzt ihm die niederschmetternde Mitteilung machte: „Setzen Sie sich, ich habe schlechte Nachrichten für Sie: Ich habe in Ihrem Darm einen ziemlich großen Tumor gefunden, ich konnte ihn nicht anheben, nicht entfernen, er ist wie eine Raupe in die Darmwand gewachsen. Ich lass das Gewebe noch analysieren, aber meine Erfahrung sagt mir: Es sieht ziemlich schlecht für Sie aus. Wenn Sie Glück haben, hat er noch nicht ausgestrahlt." Er schildert sein Ringen um den richtigen Weg, seine schlaflosen Nächte, das Entsetzen, die Ratlosigkeit – man kennt das so oder so ähnlich schon von anderen Autoren, und doch berührt es noch einmal ganz neu, wenn Arno Luik es erzählt. 

Und eine Außenschau ist es, weil er als Journalist natürlich nicht aus seiner Haut kann und neben dem inneren Befinden auch das Zeitgeschehen kommentiert. Und gerade da spricht er mir voll aus dem Herzen. Endlich nimmt mal jemand kein Blatt vor den Mund. Endlich sagt bzw. schreibt einer, was ist (Rudolf Augstein hat das mal seinem SPIEGEL ins Stammbuch geschrieben: "Sagen, was ist" – leider hält sich das Magazin schon lange nicht mehr so richtig an diese Leitlinie). Die Passagen, in denen sich Arno Luik über den politisch-moralischen Verfall der Grünen auslässt, sind beispielhaft ehrlich, gerade heraus und wahr. Und wie wunderbar, dass er angesichts des Militarismus, der sich derzeit – mit den Grünen als Vorreiterinnen und Vorreiter!! – in unserem Land breitmacht, an die großartige Philippika für den Frieden von Rolf Winter erinnert, die anlässlich des Balkankonflikts 1995 in der taz erschienen ist! Lange musste Arno, der damals der taz als Chefredakteur vorstand, dafür kämpfen, dass sie überhaupt abgedruckt werden konnte – ein Armutszeugnis für die taz, die seinerzeit ja durchaus noch recht diskussionsfreudig war. Die Auseinandersetzung um diesen Text, der dann nur mit einer Gegenposition von Thomas Schmid (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Autor der WELT) publiziert werden konnte, hat wesentlich mit dazu beigetragen, dass Luik der taz wenig später Adieu sagte. 

Aufgefallen ist er mir in den Jahren danach mit einer Reportage für das ZEIT-Magazin über die B1, die aus dem Westen Deutschlands in den Osten führt. Was für eine tolle Idee, gerade in den frühen Jahren nach der Wiedervereinigung diese Route abzufahren! Erzählen, das kann er, der Arno Luik. Er hat ein wunderbares Gefühl für Details und eine große Liebe zur Sprache (weshalb er nichts vom Sternchen- oder Doppelpunkt-Gendern hält). Am bekanntesten jedoch wurde er mit seinen Interviews, die er für den STERN führte. Legendär sein Dialog mit dem Wissenschaftler Erwin Chargaff kurz vor dessen Tod 2002, mit der damals bereits über 80-jährigen Schriftstellerin Angelika Schrobsdorff (1927-2016) im Jahr 2008, oder 2011 mit dem im Sterben liegenden Familientherapeuten und Pädagogen Wolfgang Bergmann. Arno Luik hat es dabei stets verstanden, seinen Gesprächspartnern Äußerungen zu entlocken, die sie sonst nicht so leicht preisgegeben hätten. Er kam ihnen nahe, ohne ihnen zu sehr auf die Pelle zu rücken – er hatte immer Respekt vor dem anderen, vor der Persönlichkeit seines Gegenübers. 

Ein besonderes Highlight war auch 2007 das Interview mit Hartmut Mehdorn, dem damaligen Bahnchef, der zu Luik sagte: "Ich würde Sie ja gerne hauen. Aber Schläge bringen nichts, Sie bleiben ja doch bei Ihrer Meinung." Blieb er tatsächlich. Und schrieb für den STERN ein flammendes und mit vielen bis dahin wenig bekannten Fakten gespicktes Plädoyer gegen den Wahnsinn von "Stuttgart 21". Leider hat das auch nicht bewirken können, dass dieses Projekt gestoppt wurde. Aber Luik legte nach und schrieb mit der ihm eigenen Akkuratesse 2019 gleich ein ganzes Buch, eine der wichtigsten und besten Analysen zu dem Desaster bei der Deutschen Bahn: "Schaden in der Oberleitung". Darin geht es um Lobbyismus und noch einmal um Stuttgart 21, um Hochgeschwindigkeitszüge und falsche Weichenstellungen, kurz, wie der Verlag schreibt, um "einen Staatskonzern, der außer Kontrolle geraten ist". Luiks Fazit: „Der Zustand der Deutschen Bahn ist kein Versehen. Es gibt Täter. Sie sitzen in der Bundesregierung, im Bundestag. Und seit Jahren im Tower der Deutschen Bahn." 

Allerdings gebe ich zu, dass ich mit den Interviews von Arno Luik manchmal auch gehadert habe. Da beschlich mich dann der Verdacht, dass da jemand einen Fragenkatalog abarbeitet, den er sich mit einer exorbitant aufwendigen Vorrecherche zurechtgelegt hat – für diese penible Vorarbeit war Luik bekannt. Wochenlang beschäftigte er sich eingehend mit demjenigen, dem er sich fragend nähern wollte – als freie Journalistin, bei der Zeit immer auch Geld ist, habe ich ihn darum oft beneidet ... Aber wie es dann eben so ist, bei einer derart umfassenden Vorarbeit kann die Spontaneität des Gesprächs eben auch mal auf der Strecke bleiben (zumindest für mein Gefühl) – oder sie fiel der redaktionellen Bearbeitung zum Opfer, wer weiß das schon. Viele wichtige Interviews hat Arno Luik inzwischen in einem eigenen Buch versammelt: "Als die Mauer fiel, war ich in der Sauna"– ein Zitat aus dem Gespräch mit Angela Merkel. Mein Respekt für sein Können ist jedoch immer geblieben. Auch weil er ein so aufrichtiger, meinungsstarker Kollege ist. Weil er – wie ich – aus Süddeutschland stammt, nur drei Jahre jünger ist als ich und diesen schwäbischen Schalk im Nacken hat, der immer wieder auch in seinen Gesprächen durchblitzt. 

Sein bestes Interview jedoch führt Arno Luik mit sich selbst. In diesem Buch, das den schönen Titel "Rauhnächte" trägt. Denn sie sind rauh und dunkel, diese Nächte, in denen er immer wieder aufwacht, wach liegt, Alpträume hat. Eine Serie von Bestrahlungen und auch die Chemotherapie hat er inzwischen hinter sich gebracht – zu letzterer schildert er im Buch nur die ersten Tage (die Einträge enden am 1. Januar 2023), gedauert hat sie – sofern er sie nicht abgebrochen hat – wohl bis in den März 2023, weshalb diese Erlebnisse nicht mehr im Buch gespiegelt werden. Und unverzüglich sehnt man sich danach, zu erfahren, wie es weitergegangen ist. Lieber Arno, bitte schreiben Sie weiter Tagebuch. Bitte kommentieren Sie auch fürderhin das Zeitgeschehen. Und bitte lassen Sie uns auf die Fortsetzung nicht zu lange warten.  

Arno Luik: Rauhnächte. Westend Verlag, 2023. Hardcover, 192 Seiten, 22 Euro

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