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Sie sind hier: FrolleinDoktor - das Blog

Anregende Lektüre ohne Risiken, aber mit Nebenwirkungen. Rezeptfrei in Ihrem Internet. Machense sich doch schon mal frei.

Das ist die Fortsetzung meines Blogs, das ich Anfang 2020 mit Beginn der Corona-Krise weitgehend eingestellt habe – vor allem aus technischen Gründen, die Software lief nicht mehr zuverlässig. Seit Frühjahr 2023 hat es seinen Schlaf endlich beendet und erwacht hier zu neuer Schönheit. Die einzelnen Rubriken sind noch nicht alle wieder befüllt, das wird sich aber mit der Zeit ändern. Kommentare sind auf dieser Seite nicht möglich – wer etwas anmerken will, schickt mir einfach eine E-Mail. Respektvolle Mails beantworte ich gerne – ich achte andere Meinungen und setze mich gern damit auseinander. Pöbelige Schmährufe wandern jedoch sofort in den Papierkorb. Der Name "FrolleinDoktor" ist ein satirisch gemeinter Spitzname und stellt keinen Doktortitel oder medizinischen Status dar. 

 

Familiengeschichten

“Hof” ist Band 1 einer Roman-Trilogie, die in Dänemark zum Bestseller wurde. Der Autor, Thomas Korsgaard, geboren 1995, hat ihn mit 21 Jahren geschrieben. Korsgaard hat die Gabe, ebenso wortgewaltig und doch gleichsam bescheiden mit Sprache umgehen zu können. Das wird sogar in der Übersetzung von Justus Carl und Kerstin Schöps spürbar, auch wenn man des Dänischen nicht mächtig ist und den Roman deshalb nicht im Original lesen kann. 

Korsgaard schildert Kindheit und Jugend von Tue, einem Jungen, der in ärmlichen Verhältnissen auf einem Bauernhof aufwächst. Es ist eine Familiengeschichte, wie sie sich bestimmt unzählige Male abgespielt hat und immer noch abspielt. Es sind Geschichten von Liebe und Hass, von Geborgenheit und Einsamkeit, von Zuversicht und Verzweiflung, von Zärtlichkeit und Gewalt, von Ehrlichkeit und Betrug. Neben dieser familiären Szenerie mit all ihren Abgründen schildert Korsgaard, wie Tue seine Homosexualität entdeckt, sie aber vor dem Hintergrund der familiären Umstände – eines gewalttätigen Vaters und einer depressiven Mutter – geheimhalten muss. Immer wieder versucht er, aus den Zwängen seines Elternhauses auszubrechen, was ihm dann aber doch misslingt. Zumindest in diesem ersten Band erlangt er noch nicht die Freiheit, er selbst zu sein. 

Auf den ersten Blick ist diese Coming-of-Age-Story nichts Besonderes. Das, was einen bei diesem Buch so in den Bann schlägt, ist seine Ehrlichkeit. Seine Authentizität. Man fühlt sich beim Lesen, als säße man mitten im Geschehen, weshalb man sich manchmal wie ein Voyeur fühlt. Gerade diese Aufrichtigkeit und Schonungslosigkeit, aber ebenso eine erstaunliche Zärtlichkeit für all die Menschen, um die es geht, machen den Reiz dieses Buch aus. Es ist echt. So echt, wie ein Roman eben nur sein kann. 

Hier und da vermisst man noch etwas die Tiefe – man wüsste zum Beispiel gerne mehr über die biographischen Hintergründe von Tues Mutter und Vater, und wenn man so dicht am Geschehen ist, wüsste man natürlich gern mehr zu den einzelnen Personen. Aber letztlich geht es ja um Tue und seine Entwicklung, nicht um seine Eltern oder Geschwister. Und “Hof” ist ja erst Band 1 dieser Trilogie. Band 2 mit dem Titel “Stadt” erscheint Anfang 2025, der dritte Teil (“Paradies”) im Herbst 2025. Man darf gespannt sein, wie die Geschichte weitergehen wird. 

Thomas Korsgaard: Hof
Band 1 der Tue-Trilogie
288 Seiten, Hardcover
25 Euro

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Hoffnung für dunkle Tage

Der November gilt seit jeher als Monat des Totengedenkens – und mit seinen vielen grau verhangenen Tagen (der Norden der Republik liegt seit Wochen unter so einer aufs Gemüt drückenden Glocke) liegt das auch nahe. Dabei kann man das Andenken an die Verstorbenen durchaus auch anders feiern – wie das bunte und laute mexikanische Totenfest Ende Oktober/Anfang November beispielhaft vormacht. Und vielleicht ist gerade diese heitere Fröhlichkeit voller Musik und Ausgelassenheit, die von diesem Fest ausgeht, durchaus angemessener als die bleierne Schwere, mit der wir hierzulande den Totensonntag begehen. 

Sterben und Tod sind zum Glück seit einiger Zeit nicht mehr so sehr tabuisiert wie in den vergangenen Jahrzehnten. Dazu beigetragen haben zahllose Bücher über diesen Übergang vom Diesseits in eine andere Welt (drei davon habe ich selbst mit beigetragen: “Die 7 Geheimnisse guten Sterbens”, “Anleitung zum guten Sterben” und “Den Tod muss man leben”). Die Diskussionen um assistierten Suizid und ein Selbstbestimmungsrecht auch für die letzten Lebenstage und -stunden taten ein Übriges. 

Vor kurzem ist ein Buch erschienen, das den Blick auf das Sterben und die damit verbundenen philosophischen, ethischen und grundsätzlichen Fragen noch erheblich weiter weitet. Der ungarische Psychologe Prof. Dr. Alexander Batthyány, Direktor des Viktor-Frankl-Forschungsinstituts für theoretische Psychologie und personalistische Studien an der katholischen Pázmány-Péter-Universität in Budapest, hat sich eines Phänomens angenommen, das den Wissenschaftlern in aller Welt schon seit langem Rätsel aufgibt: der “terminalen Geistesklarheit”, die viele Menschen kurz vor ihrem Tod noch einmal erlangen. Auffällig ist das vor allem bei Menschen, die in den Jahren und Monaten davor nicht mehr ansprechbar waren (z.B. durch eine schwere Demenz), dann aber wenige Stunden geistig noch einmal völlig klar und zugänglich werden, um kurz darauf zu verscheiden. Batthyány verbindet dabei einen Überblick über das aktuelle Wissen um dieses Phänomen mit zahlreichen Beispielen, auch aus der Nahtodforschung, was dem Buch nicht nur die nötige Seriosität eignet, sondern auch eine leichte Lesbarkeit. Was früher nur staunend anekdotisch dokumentiert wurde, ist dank seiner Forschung nun greifbarer geworden. Und einmal mehr wird daran deutlich, dass an diesen Dingen mit einer materialistischen Sichtweise allein nicht beikommt. 

Batthyány bezieht sich dabei auch auf das Vermächtnis seiner drei großen Lehrer, bei denen er in den 1990er Jahren noch studieren konnte: John C. Eccles, Viktor E. Frankl und Elisabeth Kübler-Ross. Er schreibt: “Diese drei Lehrer haben Generationen von Studenten und künftigen Wissenschaftlern ermutigt, ja geradezu aufgefordert, unter keinen Umständen den Glauben a die unveräußerliche Würde, Freiheit und Verantwortung des Menschen aufzugeben; niemals im Menschen nur eine wunderbar komplexe Maschine - aber eben doch nur eine Maschine - zu sehen, sondern stets ein einmaliges und einzigartiges Ich. Unsere Frage sollte niemals lauten: Was ist der Mensch? Sie sollte lauten: Wer ist der Mensch – und auf was hin, warum ist er?” 

Es ist ein Buch, das gerade in den jahreszeitlich dunklen Tagen, vor allem in diesen dunklen Tagen unserer Zeit Hoffnung vermittelt und Zuversicht. Ein Buch, das ermuntert, den Blick zu weiten und das vorgeblich Unfassbare neu und anders zu fassen. 

Alexander Batthyány: Das Licht der letzten Tage 
288 Seiten, Hardcover
Übersetzung aus dem Ungarischen: Horst Kappen
O.W. Barth Verlag, München
 

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Die Grenzgängerin

Es gibt kaum etwas Besseres, als von Originalquellen etwas zu erfahren, was man sonst nicht unbedingt erleben könnte. So geht es einem auch mit diesem Buch. Hadley Vlahos, Krankenschwester und Fachkrankenpflegerin für Hospizpflege aus der Nähe von New Orleans in den USA, fasst in diesem Buch ihre vielfältigen Erlebnisse zusammen. Damit führt sie uns in Gefilde, die wir sonst gerne zu vermeiden wissen und uns gerne drum herum schummeln: die letzten Tage im Leben eines Menschen. Erlebnisse im Grenzgebiet zwischen Leben und Tod, im Niemandsland. Es sind zwölf berührende Geschichten von Menschen, wie sie in ähnlicher Form in aller Welt tagtäglich stattfinden. Leider viel zu oft nicht in der nötigen Würde, mit der nötigen Pflege und dem unabdingbaren Verständnis für diese ganz besonderen Monate, Wochen, Tage, Stunden. 

Warum es so oft Erfahrungen von Fachleuten aus anderen Ländern sind – hier aus den USA –, zeigt, dass das Thema in Europa, und vor allem in Deutschland, immer noch weitgehend tabuisiert wird. Zwar gibt es inzwischen deutlich mehr Literatur zum Thema Sterben und Tod, aber was dabei konkret passiert, wie die Menschen sich fühlen, was sie brauchen, woran es immer noch hapert, das bleibt eben doch weitgehend im Dunkeln, im Bereich der Scham, des Vermeidens, der Abwehr. Und es sind gerade die Kranken- und Palliativschwestern, die sich hier engagieren und den Mund aufmachen, um das Ganze aus der Tabuzone herauszuholen. 

Zwölf Fallgeschichten hat Hadley Vlahos als Grenzgängerin zwischen den Welten hier zusammengetragen. Es sind zu Herzen gehende Erlebnisse, die genauso gut auch hierzulande hätten geschehen können. Und doch wieder nicht, denn die schrankenlose Offenheit, mit der Vlahos hier berichtet, diese schutzlose Ehrlichkeit, bringen nur wenige Menschen auf. Es ist aber gerade dies das große Pfund, mit dem dieses Buch wuchern kann. Weil es so echt ist. Weil es so gnadenlos aufrichtig ist. Weil jede und jeder sofort versteht, worum es geht und worauf es ankommt. 

Deshalb sei diesem Buch eine weitestmögliche Verbreitung gewünscht – wir alle können daraus lernen. Und uns kann es, wenn es dann soweit ist und uns die Gnade des bewussten Abschiednehmens aus diesem Erdenleben vergönnt sein sollte, ermutigen, rechtzeitig die Weichen zu stellen und für eine adäquate Umgebung für diesen Himmelsgeburtstag zu sorgen, der genauso wichtig und gestaltbar ist wie der Eintritt in das Leben selbst, die Geburt. “Wenn ein Geist stirbt, wird er Mensch; wenn ein Mensch stirbt, wird er Geist” – das sagte einst Novalis (1772–1801) so weise. Hier liegt ein Zeugnis vor, dass er damit nur allzu recht hatte. 

Hadley Vlahos: Zwischen den Welten
Was ich als Hospizschwester über die Grenze zwischen Leben und Tod gelernt habe. Zwölf unvergessliche Erlebnisse. 
288 Seiten, Hardcover 
22 Euro 
Kösel Verlag, München 

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An die Nadeln, fertig, los!

Das Cover von "Knit is for Power" strahlt schon farblich Kraft und Zuversicht aus. (c) Frech-Verlag
"Küstenzauber" von Susanne Oswald ist ein halbrundes Tuch, das je nach Garnqualität ein leichter Sommerüberwurf oder auch ein wärmendes Tuch für kühle Tage werden kann. (c) "Knit is for Power", Frech-Verlag
Ebenfalls von Susanne Oswald ist das Design für die Stola "Nordseebrise". Sie ist kurz entschlossen mit ihrem schwer herzkranken Mann an die Küste gezogen. "Strickzeit ist Glückszeit für mich", sagt sie. (c) "Knit is for Power", Frech-Verlag
"Stripes and Cables" heißt das universell einsetzbare Halbmondtuch von Stephanie van der Linden, die von ihrer Oma einen großen Korb mit angefangenen Socken und zahllosen Wollknäueln geerbt hat. Das Stricken war für sie wichtig, als sie ihre Mutter in deren letzten Monaten begleitet hat und ebenso jetzt, wo sie ihren 23 Jahre alten Sohn pflegt, der an ME/CFS erkankt ist. (c) "Knit is for Power", Frech-Verlag
"Sweaters" von Melanie Berg enthält 13 ebenso raffinierte wie einfach zu strickende Anleitungen für Pullis, Jacken und Shirts. (c) Frech-Verlag
"Ashen" hat Melanie Berg diese bildschöne Jacke genannt. (c) "Sweaters" von Melanie Berg, Frech-Verlag
"Cinnamon Daydream" ist ein Kuschel-Pullover mit einer mittigen Lace-Bordüre. Melanie hat ihn aus einer Merino-Alpaka-Mischung gestrickt, aber auch ein gebürstetes Alpaka-Garn ist dafür gut geeignet. (c) "Sweaters" von Melanie Berg, Frech-Verlag
"Quiet City" ist ein federleichter Poncho aus einem Merino-Seide-Gemisch, das zusammen mit Silk-Mohair verstrickt wird, aber genauso gut auch aus normalem Mohair, Kid Silk, Yak- oder Merinowolle gearbeitet werden kann. (c) "Sweaters" von Melanie Berg, Frech-Verlag

Wer mich kennt, weiß, dass ich gerne stricke – Tücher, Jacken, Pullover, Decken … Und wenn die fertigen Teile nicht gleich von meiner Tochter oder meiner Enkelin geräubert werden, führe ich sie selbst gerne aus. Weshalb man bekanntlich nie genug Anleitungen im Archiv und nie genug Wolle im (hoffentlich mottenfreien!) Vorratslager haben kann. Kein Wunder also, dass ich immer neugierig bin auf neue Strickbücher, vor allem die der besonderen Art. Der Frech-Verlag ist bekannt für solche Bücher, qualitativ hochwertig und immer mit dem speziellen Etwas. Zwei davon sind jetzt neu herausgekommen und ebenso ansprechend wie unterstützenswert. 

Da ist zum einen “Knit is for Power” – ein Buch, das auf 160 Seiten nicht nur ausgesprochen schön und hochwertig gestaltet ist, sondern die Strickanleitungen von 14 in der Szene bekannten Designerinnen mit besonders einschneidenden Erlebnissen aus deren Leben verbindet. Das Stricken war für sie gerade in diesen Krisenzeiten Rettungsanker, Seelenbalsam und Aufbauprogramm zugleich. Eine davon ist Marisa Nöldeke (45), Gründerin von maschenfein.de. Sie hatte den frühen Tod ihres ersten Kindes zu verkraften und später die vielen Krankenhausaufenthalte im Rahmen der Behandlung ihres dritten Kindes, das mit Trisomie 21 auf die Welt gekommen war. “Man tut etwas und sitzt nicht nur sinnlos herum”, umreißt Marisa Nöldeke die Wirkung des Strickens an schweren Tagen. "Man kann nachdenken und produziert gleichzeitig etwas.” Und manchmal verändert sich dann Masche für Masche der Blick auf das Geschehen: “Die Zeit heilt nicht die Wunden, aber man lernt, mit diesen Wunden zu leben.” 

Eine andere ist Melanie Berg, in der internationalen Strick-Community ein bekannter Name. Unter dem Künstlerinnennamen Mairlynd veröffentlicht sie raffinierte Strickmuster für Tüchter und Pullis (siehe auch die nachfolgende Besprechung ihres neuen Buches “Sweaters”). Im Sommer 2021 erfuhr sie, dass sie an Brustkrebs erkrankt war. In der nachfolgenden schwierigen Zeit war das Stricken für sie eine Art Rettungsanker. Der Zuspruch aus allen Teilen der Welt trugen mit dazu bei, dass sie Hoffnung schöpfte. Und auch wieder stricken konnte: “Wenn ich jetzt zu den Nadeln griff, war ich nicht mehr allerschlimmsten Kopfkino ausgeliefert. Stattdessen hatte ich etwas,  das mich an all die Menschen dort draußen erinnerte, die mir Heilung wünschten, etwas, das mich mit ihnen verband.” 

“Knit is for Power” ist ein Rundum-Ermutigungsbuch, das allen Strickbegeisterten ans Herz gelegt sei. Es ist erschienen im Frech Verlag und kostet 30 Euro. 

Und da ist zum anderen “Sweaters”, das jüngste Anleitungsbuch von Melanie Berg, die schon mit ihren “Shawls” einen Hit gelandet hat. Es ist zweisprachig angelegt (englisch und deutsch) und enthält 13 Anleitungen für Pullis, Jacken und Shirts aller Art - von warm und kuschelig bis luftig und kühlend. Die Anleitungen sind gut verständlich und mit ausführlichen Hinweisen zu Größen und Garnmengen versehen. Da gibt's nur eines: An die Nadeln! 

“Sweaters” von Melanie Berg ist ebenfalls im Frech-Verlag erschienen, umfasst 144 Seiten und kostet 25 Euro.

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Fulminantes Spektakel

Dovlet Nurgeldiyev als Frère Massée, Jacques Imbrailo als St. François, Foto: Bernd Uhlig
Kartal Karagedik als Frère Léon, Anthony Gregory als Le Lépreux, Jacques Imbrailo als St. François, David Minseok Kang als Frère Bernard, Audi Jugendchorakademie, Vokalensemble Lauschwerk, Philharmonisches Staatsorchester Hamburg, Foto: Bernd Uhlig
Anna Pohaska als L'Ange, Foto: Bernd Uhlig
Anthony Gregory als Le Lépreux, Jacques Imbrailo als St. François, Audi Jugendchorakademie, Vokalensemble LauschWerk, Foto: Bernd Uhlig
Jacques Imbrailo als St. François, Anna Prohaska als L'Ange, Foto: Bernd Uhlig
Jacques Imbrailo als St. François, David Minseok Kang als Frère Bernard, Florian Eggers als Frère Sylvestre, Niklas Mallmann als Fère Rufin, Audi Jugendchorakademie, Vokalensemble LauschWerk, Philharmonisches Staatsorchester Hamburg, Foto: Bernd Uhlig
Anna Prohaska als L'Ange, Kent Nagano, Philharmonisches Staatsorchester Hamburg, Foto: Bernd Uhlig

Fast fünf Stunden dauerte das Spektakel, und wer dabei sein durfte, wird es sein Leben lang nicht mehr vergessen: "Saint François d'Assise" des französischen Komponisten Olivier Messiaen (1908-1992). Mit gut vier Jahren Verspätung (Corona-bedingt!) stand dieses fast fünfstündige Opus jetzt endlich auf dem Spielplan. Und auch wenn es als Oper in drei Akten und acht Bildern konzipiert ist, so ist es doch weniger eine solche als vielmehr ein musikalisches Event der Extraklasse. Es erzählt vom Leben und Glaubenssätzen des Heiligen Franziskus (1181-1226), der im 13. Jahrhundert den Orden der Franziskaner-Mönche begründet hat und auch am der Gründung der "Klarissen" mit beteiligt war. Er hatte ein Herz für die Armen und lebte selbst in größter Bescheidenheit und Demut. Legendär ist auch seine Liebe zur Natur und vor allem zur Vogelwelt.

In Auftrag gegeben wurden die "Franziskus-Szenen", wie Messiaen sein Werk untertitelte, von Rolf Liebermann (1910-1999) während dessen Intendanz an der Pariser Oper (1973 bis 1980), wo er – ebenso wie zur Zeit seiner Hamburger Intendanz (1959-1973 und 1985-1988) – mehreren zeitgenössischen Komponisiten Auftragswerke verschaffte. Kent Nagano (geb. 1951) und seit 2015 Hamburgs Generalmusikdirektor, war damals Assistent von Messiaen und bereitete die Uraufführung 1983 mit vor. Schon deshalb war er der ideale Dirigent für dieses Riesenwerk – niemand kennt es so gut wie er.

Schon wegen der Fülle der beteiligten Musiker kann "Saint François d'Assise" nicht in einem normalen Opernhaus aufgeführt werden. In Hamburg waren über 300 Mitwirkende beteiligt: neben den neun Gesangssolisten (darunter nur eine Frau als Engel) das gesamte Philharmonische Staatsorchester mit 120 Musikerinnen und Musiker beteiligt, sowie ein großer Chor (die Audi Jugendchorakademie und das Vokalensemble LauschWerk) und die Kinder- und Erwachsenen-Komparserie der Staatsoper Hamburg. Wo also, wenn nicht in der Elbphilharmonie mit ihrem Weinberg-Konzertsaal, könnte so ein voluminöses Werk aufgeführt werden? Genau dort gehört es hin, in diesen Saal mit seiner Großzügigkeit und filigranen Akustik. Aufgrund des mit jeder Vorstellung verbundenen riesigen Aufwands wurde es jedoch nur dreimal aufgeführt.

Sänger wie Musiker vollbrachten an diesem Abend eine Glanzleistung – Kent Nagano, die umfangreiche Partitur auf dem Pult vor sich, hatte allesamt perfekt im Griff, nie ließ seine Konzentration nach, und auch die Musikerinnen und Musiker sowie der Chor folgten bis zum sich ins Unendliche steigernden Forte am Schluss jeder auch noch so kleinen Geste und agierten mit höchster Präzision. Schon das war eine fulminante Leistung.

Den optischen Rahmen hatte Georges Delnon entworfen, der 2015 mit Nagano als Intendant an die Hamburgische Staatsoper kam. Er ließ direkt über der Bühne eine Plattform bauen, die über zwei Laufstege zugänglich war. Jacques Imbrailo, der den Part des Franziskus übernahm, steht somit stets im Mittelpunkt (und hat dort freundlicherweise auch ein iPad mit den Noten und Texten zur Verfügung – anders wäre diese Riesenpartie vermutlich auch kaum zu stemmen). Das ist ebenso schlicht wie gekonnt zugleich. Auch dass er den Engel (mit warmer Klangfülle intoniert von Anna Pohaska) ganz in weiß gekleidet mit Glitzerapplikationen von verschiedenen Rängen und später auf einer kleinen Plattform mit einem silbernen Band als Sicherungs-Begrenzung in neun Meter Höhe singen ließ, war ein gelungener Einfall.

Weniger stimmig, um nicht zu sagen: überflüssig waren jedoch die Filme, die ebenso wie die Übersetzung der französisch gesungenen Texte auf eine ringförmige Leinwand projiziert wurden. Die Filme befassten sich mit Themen, die den Heiligen Franziskus zeitlebens beschäftigten: Armut, Bescheidenheit, Einsatz für die Bedürftigen, Liebe zur Natur, Mitgefühl. Delnon hatte dafür Video-Sequenzen drehen lassen: Da begleitet er zum einen einen Hamburger Obdachlosen zu einem Dusch-Bus und unterstützt das Hamburger Straßenmagazin Hinz und Kunzt, über dessen Verkauf Menschen, die in Hamburg auf der Straße leben, sich ein Zubrot verdienen. Zum anderen besucht er Mojib Latif, den Präsidenten des Helmholtz-Zentrums für Ozeanforschung in Kiel und Päsidenten des Club of Rome Deutschland und der Akademie der Wissenschaften in Hamburg – womit er das Thema Klimawandel und die damit verbundenen Umweltprobleme in den Mittelpunkt stellt. Man sieht Latif in seinem Büro oder durch Feld und Flur wandelnd, man sieht durch Windbruch zerstörte Wälder und andere Bilder mehr. Des Weiteren begleitet Delnon mit der Kamera die "Seawatch 5" im Mittelmeer, die sich als Seenotrettungsboot um Flüchtlinge kümmert, die dort in Seenot geraten, und ebenso einen Franziskaner-Mönch auf eine Elbinsel, eine Musikerin in die Probenräume der Staatsoper zu Proben oder Kent Nagano in sein Büro sowie eine Sterbebegleiterin in das Hospiz im Helenenstift in Hamburg.

Das ist alles sicher gut gemeint, wirkt aber - vor allem im Zusammenhang mit den Texten - doch etwas aufdringlich und oberlehrerhaft, teilweise auch geschmäcklerisch. Schließlich wissen wir alle um die dort angesprochenen Probleme, und sicher erwachen in jedem von uns beim Lesen der Texte und ebenso beim Hören der eindringlichen Musik eigene Bilder und Vorstellungswelten, die die Aussagen des Heiligen Franziskus in der Gegenwart spiegeln. Es hätte der Belehrung durch Georges Delnon in Form der meist in Schwarz-Weiß gedrehten Videos dafür nicht bedurft. Dass sich nach der zweiten Pause die Reihen doch merklich gelichtet hatten, ist vielleicht auch auf diesen Umstand zurückzuführen, dass man genervt war von so viel optischer Überbeanspruchung. Stellenweise huscht dazu noch ein in einen quietschgrünen Regenumhang gehülltes Kind mit einer Stirnleuchte durch die Ränge oder sitzt, eine Weltkugel umarmend, am Bühnenrand – auch das ein reichlich überflüssiges Beiwerk.

Letztlich konnten diese Details den Gesamteindruck jedoch nicht schmälern (man konnte immer wieder auch einfach nur die Augen schließen, um die aufdringlichen Bilder auszublenden). Es war ein grandioser Abend, der noch lange nachwirken wird und mit dem sich Kent Nagano ein für allemal ein Denkmal in der Hamburger Musikwelt gesetzt hat.

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