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FrolleinDoktor meint

FrolleinDoktors Gesundheitstipp

FrolleinDoktor rüscht sich auf

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Anregende Lektüre ohne Risiken, aber mit Nebenwirkungen. Rezeptfrei in Ihrem Internet. Machense sich doch schon mal frei.

Das ist die Fortsetzung meines Blogs, das ich Anfang 2020 mit Beginn der Corona-Krise weitgehend eingestellt habe – vor allem aus technischen Gründen, die Software lief nicht mehr zuverlässig. Seit Frühjahr 2023 hat es seinen Schlaf endlich beendet und erwacht hier zu neuer Schönheit. Die einzelnen Rubriken sind noch nicht alle wieder befüllt, das wird sich aber mit der Zeit ändern. Kommentare sind auf dieser Seite nicht möglich – wer etwas anmerken will, schickt mir einfach eine E-Mail. Respektvolle Mails beantworte ich gerne – ich achte andere Meinungen und setze mich gern damit auseinander. Pöbelige Schmährufe wandern jedoch sofort in den Papierkorb. Der Name "FrolleinDoktor" ist ein satirisch gemeinter Spitzname und stellt keinen Doktortitel oder medizinischen Status dar. 

 

Fulminantes Spektakel

Dovlet Nurgeldiyev als Frère Massée, Jacques Imbrailo als St. François, Foto: Bernd Uhlig
Kartal Karagedik als Frère Léon, Anthony Gregory als Le Lépreux, Jacques Imbrailo als St. François, David Minseok Kang als Frère Bernard, Audi Jugendchorakademie, Vokalensemble Lauschwerk, Philharmonisches Staatsorchester Hamburg, Foto: Bernd Uhlig
Anna Pohaska als L'Ange, Foto: Bernd Uhlig
Anthony Gregory als Le Lépreux, Jacques Imbrailo als St. François, Audi Jugendchorakademie, Vokalensemble LauschWerk, Foto: Bernd Uhlig
Jacques Imbrailo als St. François, Anna Prohaska als L'Ange, Foto: Bernd Uhlig
Jacques Imbrailo als St. François, David Minseok Kang als Frère Bernard, Florian Eggers als Frère Sylvestre, Niklas Mallmann als Fère Rufin, Audi Jugendchorakademie, Vokalensemble LauschWerk, Philharmonisches Staatsorchester Hamburg, Foto: Bernd Uhlig
Anna Prohaska als L'Ange, Kent Nagano, Philharmonisches Staatsorchester Hamburg, Foto: Bernd Uhlig

Fast fünf Stunden dauerte das Spektakel, und wer dabei sein durfte, wird es sein Leben lang nicht mehr vergessen: "Saint François d'Assise" des französischen Komponisten Olivier Messiaen (1908-1992). Mit gut vier Jahren Verspätung (Corona-bedingt!) stand dieses fast fünfstündige Opus jetzt endlich auf dem Spielplan. Und auch wenn es als Oper in drei Akten und acht Bildern konzipiert ist, so ist es doch weniger eine solche als vielmehr ein musikalisches Event der Extraklasse. Es erzählt vom Leben und Glaubenssätzen des Heiligen Franziskus (1181-1226), der im 13. Jahrhundert den Orden der Franziskaner-Mönche begründet hat und auch am der Gründung der "Klarissen" mit beteiligt war. Er hatte ein Herz für die Armen und lebte selbst in größter Bescheidenheit und Demut. Legendär ist auch seine Liebe zur Natur und vor allem zur Vogelwelt.

In Auftrag gegeben wurden die "Franziskus-Szenen", wie Messiaen sein Werk untertitelte, von Rolf Liebermann (1910-1999) während dessen Intendanz an der Pariser Oper (1973 bis 1980), wo er – ebenso wie zur Zeit seiner Hamburger Intendanz (1959-1973 und 1985-1988) – mehreren zeitgenössischen Komponisiten Auftragswerke verschaffte. Kent Nagano (geb. 1951) und seit 2015 Hamburgs Generalmusikdirektor, war damals Assistent von Messiaen und bereitete die Uraufführung 1983 mit vor. Schon deshalb war er der ideale Dirigent für dieses Riesenwerk – niemand kennt es so gut wie er.

Schon wegen der Fülle der beteiligten Musiker kann "Saint François d'Assise" nicht in einem normalen Opernhaus aufgeführt werden. In Hamburg waren über 300 Mitwirkende beteiligt: neben den neun Gesangssolisten (darunter nur eine Frau als Engel) das gesamte Philharmonische Staatsorchester mit 120 Musikerinnen und Musiker beteiligt, sowie ein großer Chor (die Audi Jugendchorakademie und das Vokalensemble LauschWerk) und die Kinder- und Erwachsenen-Komparserie der Staatsoper Hamburg. Wo also, wenn nicht in der Elbphilharmonie mit ihrem Weinberg-Konzertsaal, könnte so ein voluminöses Werk aufgeführt werden? Genau dort gehört es hin, in diesen Saal mit seiner Großzügigkeit und filigranen Akustik. Aufgrund des mit jeder Vorstellung verbundenen riesigen Aufwands wurde es jedoch nur dreimal aufgeführt.

Sänger wie Musiker vollbrachten an diesem Abend eine Glanzleistung – Kent Nagano, die umfangreiche Partitur auf dem Pult vor sich, hatte allesamt perfekt im Griff, nie ließ seine Konzentration nach, und auch die Musikerinnen und Musiker sowie der Chor folgten bis zum sich ins Unendliche steigernden Forte am Schluss jeder auch noch so kleinen Geste und agierten mit höchster Präzision. Schon das war eine fulminante Leistung.

Den optischen Rahmen hatte Georges Delnon entworfen, der 2015 mit Nagano als Intendant an die Hamburgische Staatsoper kam. Er ließ direkt über der Bühne eine Plattform bauen, die über zwei Laufstege zugänglich war. Jacques Imbrailo, der den Part des Franziskus übernahm, steht somit stets im Mittelpunkt (und hat dort freundlicherweise auch ein iPad mit den Noten und Texten zur Verfügung – anders wäre diese Riesenpartie vermutlich auch kaum zu stemmen). Das ist ebenso schlicht wie gekonnt zugleich. Auch dass er den Engel (mit warmer Klangfülle intoniert von Anna Pohaska) ganz in weiß gekleidet mit Glitzerapplikationen von verschiedenen Rängen und später auf einer kleinen Plattform mit einem silbernen Band als Sicherungs-Begrenzung in neun Meter Höhe singen ließ, war ein gelungener Einfall.

Weniger stimmig, um nicht zu sagen: überflüssig waren jedoch die Filme, die ebenso wie die Übersetzung der französisch gesungenen Texte auf eine ringförmige Leinwand projiziert wurden. Die Filme befassten sich mit Themen, die den Heiligen Franziskus zeitlebens beschäftigten: Armut, Bescheidenheit, Einsatz für die Bedürftigen, Liebe zur Natur, Mitgefühl. Delnon hatte dafür Video-Sequenzen drehen lassen: Da begleitet er zum einen einen Hamburger Obdachlosen zu einem Dusch-Bus und unterstützt das Hamburger Straßenmagazin Hinz und Kunzt, über dessen Verkauf Menschen, die in Hamburg auf der Straße leben, sich ein Zubrot verdienen. Zum anderen besucht er Mojib Latif, den Präsidenten des Helmholtz-Zentrums für Ozeanforschung in Kiel und Päsidenten des Club of Rome Deutschland und der Akademie der Wissenschaften in Hamburg – womit er das Thema Klimawandel und die damit verbundenen Umweltprobleme in den Mittelpunkt stellt. Man sieht Latif in seinem Büro oder durch Feld und Flur wandelnd, man sieht durch Windbruch zerstörte Wälder und andere Bilder mehr. Des Weiteren begleitet Delnon mit der Kamera die "Seawatch 5" im Mittelmeer, die sich als Seenotrettungsboot um Flüchtlinge kümmert, die dort in Seenot geraten, und ebenso einen Franziskaner-Mönch auf eine Elbinsel, eine Musikerin in die Probenräume der Staatsoper zu Proben oder Kent Nagano in sein Büro sowie eine Sterbebegleiterin in das Hospiz im Helenenstift in Hamburg.

Das ist alles sicher gut gemeint, wirkt aber - vor allem im Zusammenhang mit den Texten - doch etwas aufdringlich und oberlehrerhaft, teilweise auch geschmäcklerisch. Schließlich wissen wir alle um die dort angesprochenen Probleme, und sicher erwachen in jedem von uns beim Lesen der Texte und ebenso beim Hören der eindringlichen Musik eigene Bilder und Vorstellungswelten, die die Aussagen des Heiligen Franziskus in der Gegenwart spiegeln. Es hätte der Belehrung durch Georges Delnon in Form der meist in Schwarz-Weiß gedrehten Videos dafür nicht bedurft. Dass sich nach der zweiten Pause die Reihen doch merklich gelichtet hatten, ist vielleicht auch auf diesen Umstand zurückzuführen, dass man genervt war von so viel optischer Überbeanspruchung. Stellenweise huscht dazu noch ein in einen quietschgrünen Regenumhang gehülltes Kind mit einer Stirnleuchte durch die Ränge oder sitzt, eine Weltkugel umarmend, am Bühnenrand – auch das ein reichlich überflüssiges Beiwerk.

Letztlich konnten diese Details den Gesamteindruck jedoch nicht schmälern (man konnte immer wieder auch einfach nur die Augen schließen, um die aufdringlichen Bilder auszublenden). Es war ein grandioser Abend, der noch lange nachwirken wird und mit dem sich Kent Nagano ein für allemal ein Denkmal in der Hamburger Musikwelt gesetzt hat.

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Pflichtlektüre

Es ist ein Buch, das gegen den Strich bürstet. Ein Buch, das aufwühlt und nachdenklich macht. Das historische Zusammenhänge aus jüngster Vergangenheit verständlich darlegt. Das verdeutlicht, dass es heute um alles andere geht als "kriegstüchtig" zu werden, wie es Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius so ungeniert formulierte. Dass es vielmehr darum geht, friedenstüchtig zu werden – in jeder Hinsicht. Ein Buch, das für jeden Deutschen (und alle anderen Europäer ebenso) zur Pflichtlektüre werden sollte. 

Allein – es steht zu befürchten, dass genau das Gegenteil passiert: dass es weitgehend verschwiegen und ignoriert wird. Bisher – und es ist nun schon seit fast zwei Wochen im Handel – wurde das Buch jedenfalls noch in keinem der "Leitmedien" besprochen. Diese sind sonst ja doch sehr schnell bei der Hand, wenn es um Vorabdrucke oder Rezensionen zum Erscheinungstermin geht. Dass das hier nicht interessiert, ist allerdings nicht weiter verwunderlich. Denn was Günter Verheugen und Petra Erler hier auf über 300 Seiten zusammengetragen haben, steht im Gegensatz zu dem, was heute in Deutschland die weithin verbreitete Mainstream-Meinung darstellt. Es konterkariert die gebetsmühlenhaft wiederholte Geschichte vom bösen Russland, das die Ukraine unterjochen möchte, um sich letztlich das ganze freiheitliche Europa einzuverleiben. Es blättert die vielschichtige spannende Vorgeschichte der vergangenen 50 Jahre auf, in denen sich Russland seit dem Fall der Mauer anfangs immer mehr an Europa angenähert hat (man denke nur an die denkwürdige Rede von Putin im Deutschen Bundestag 2001), sogar gleichberechtigtes Mitglied der NATO werden wollte, aber dann rüpelhaft und hochnäsig von den USA und anderen europäischen Machthabern abgewiesen und nicht selten geradezu beschämt wurde (man erinnere sich nur an den Spruch von Barack Obama über Russland als "Regionalmacht"). 

Niemand wird sagen können, das sei alles Geschichtsklitterei oder an den Haaren herbeigezogen. Allein der Anhang umfasst 28 Seiten penibel dokumentierte Quellenhinweise. Günter Verheugen und Petra Erler haben sich ihre Analyse nicht aus den Fingern gesaugt. Beide Autoren sind zudem schon aufgrund ihres beruflichen Werdegangs über jeden Zweifel erhaben, was ihre Kompetenz und Seriosität betrifft. Günter Verheugen (geb. 1944) war lange Zeit Abgeordneter des Deutschen Bundestages (zuerst für die FDP, nach deren Wechsel von der sozialliiberalen Koalition in die Regierung Helmut Kohl im Jahr 1982 für die SPD) und von 1998 bis September 1999 unter der rot-grünen Schröder-Regierung Staatsminister im Auswärtigen Amt. Anschließend wechselte er als EU-Kommissar für die EU-Erweiterung (ab 2002 auch für die Europäische Nachbarschaftspolitik) nach Brüssel; von 2004 bis 2010 war er Vizepräsident der EU-Kommission und zuständig für Unternehmen und Industrie. Ab 2007 war er europäischer Co-Vorsitzender des Transatlantischen Wirtschaftsrats. Heute ist Verheugen Honorarprofessor an der Europa-Universität Viadrina, Autor und Publizist.

Petra Erler (geb. 1958) wuchs in der DDR auf und promovierte am Institut für Internationale Beziehungen an der Akademie für Staat und Recht in Potsdam. Seit 1999 arbeitet sie mit Günter Verheugen zusammen und fungierte von 2006 bis 2010 als dessen "Kabinetts-Chefin". Seit 2010 leitet sie ein Strategieberatungsunternehmen in Potsdam. 

Nach der Lektüre dieses Buches versteht man besser, was Putin dazu verleitet haben mochte, den Angriffskrieg auf die Ukraine loszutreten. Vor allem wird klar, welchen Anteil der Westen daran hatte und immer noch hat. Man versteht, was hier schiefgelaufen ist, und mit welcher Arroganz und Ignoranz der Westen sich gegenüber Russland über Jahrzehnte hinweg geriert hat. Man versteht all die Hintergründe, auf die es ankommt, wenn man den verhängnisvollen Krieg in der Ukraine in das Weltgeschehen einordnen möchte. Und es wird klar, dass dieser Konflikt mit kriegerischen Mitteln ganz sicher nicht gelöst werden kann. Sondern dass vielmehr gerade das Gegenteil notwendig wird: eine Verständigung auf internationaler Ebene.

Dieses Buch ist deshalb ein grandioses Plädoyer für den Frieden und für mehr Verständigung zwischen den Völkern und auch zwischen den führenden Politikerinnen und Politikern aller Länder. Ein Buch, das in jeden Haushalt gehört. Und vor allem in die Schulen, in den Geschichtsunterricht der Mittel- und Oberstufe. Als Resümee sei hier der Schluss des Buches zitiert: 

"Weder in den USA noch in Deutschland hat sich die Einsicht Bahn gebrochen, dass es nicht möglich ist, Russland zu besiegen, ohne den Dritten Weltkrieg zu führen, wie eine Gruppe ehemaliger Nachrichtendienstmitarbeiter aus den USA aufführt. Ein solcher Krieg muss mit allen Mitteln vermieden werden, wenn man nicht die ganze Welt zum Schicksal Karthagos verdammen will. Aber es scheint, als wäre die westliche Politik blind dafür. Die auch bei uns gängige Behauptung, wenn die Ukraine mangels Unterstützung militärisch verliere, bestünde die Gefahr eines russischen Angriffs auf die NATO, entbehert jeder Grundlage. 

Der CIA-Direktor William Burns hat jüngst in Erinnerung gerufen, wie die US-Interessenlage ist: Russland ist nur das Vorspiel, der eigentliche Gegner heißt China. Die USA, sprich die NATO, können es sich nicht leisten, gegenüber China schwach zu erscheinen. Wer fest an der Seite der Ukraine steht, trifft Vorsorge für einen möglichen chinesischen Griff nach der Weltherrschaft. Nur China ist der Rivale, der die USA als Hegemon verdrängen kann. In dem Fall muss man Burns zustimmen. Immer geht es aus Sicht der USA um ihre globale Dominanz. Dem wird alles andere untergeordnet: das Schicksal Deutschlands und Europas, einschließlich der Ukraine, einschließlich Russlands. Wollen wir direkt in den Krieg gegen Russland ziehen, um China abzuschrecken, falls die Ukraine militärisch am Verlieren ist? Darauf läuft alles hinaus. 

Unter solchen Bedingungen trampelt man nicht wie ein deutscher Elefant im Porzellanladen herum, sondern müsste innerhalb der EU, aber auch international alles tun, um den aktuellen Krieg in der Ukraine umgehend zu beenden und sich dann um Versöhnung in Europa zu bemühen. Damit Verständigung entsteht und Frieden. Wir sind nicht zur Gegnerschaft oder gar Feindschaft mit irgendeinem Land der Welt verdammt. Wie das ausgeht, wissen wir aus der Geschichte. Wir sollten von uns selbst erwarten, dass ein ganz praktisches und stetes Bemühen um Frieden das deutsche Markenzeichen in der Welt ist. So will es das Grundgesetz. Eine Vasallenrolle ist dort genauso wenig festgeschrieben wie die verheerende Ansicht, Russland sei der ewige Feind." 

Dem ist nichts mehr hinzuzufügen. 

Günter Verheugen und Petra Erler: Der lange Weg zum Krieg
Russland, die Ukraine und der Westen – Eskalation statt Entspannung 
336 Seiten 
WIlhelm Heyne Verlag, München 
24 Euro

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Eine ganze Menge Leben

(c) AlamodeFilm
(c) AlamodeFilm
(c) AlamodeFilm

Mathieu, geschätzte Ende 40, ist ein höchst erfolgreicher Pariser Schauspieler, ein Star. Von heute auf morgen schmeißt er jedoch alles hin, sagt die lange geplante Premiere ab und zieht sich für eine Woche in ein Wellness-Hotel an der bretonischen Küste zurück. In der Einsamkeit außerhalb der Saison will er sich überlegen, was er wirklich will, wie seine Zukunft aussehen soll. Denn so, wie er bisher gelebt hat, ergibt es für ihn keinen Sinn mehr. Midlifecrisis nennt man das. Seine Lebensgefährtin, eine bekannte Nachrichtensprecherin, kann mit seinen Selbstzweifeln wenig anfangen, unterstützt ihn aber in seinem Rückzug und baut darauf, dass sich alles schon wieder irgendwie einrenken wird.  

Im Hotel erreicht Mathieu eine Nachricht von Alice – sie lebt ganz in der Nähe und hat erfahren, dass er sich dort aufhält. Vor 16 Jahren hatten sie beide eine Liebesbeziehung, die Mathieu jedoch abrupt beendet hat. Alice fiel in ein tiefes Loch, zog sich aufs Land zurück, gab ihre Karriere als Pianistin auf, heiratete einen Arzt und bekam eine Tochter. Seither ist sie als Klavierlehrerin tätig. Jetzt fragt sie Mathieu, ob sie sich nicht mal treffen sollten. Mathieu willigt ein. 

Und so reflektieren beide noch einmal ihre Begegnung vor dem Hintergrund ihres Lebens. Sie spüren noch eine Verbindung, sie haben noch nicht abgeschlossen. Alice zeigt ihre Verletztheit, Mathieu seine Ratlosigkeit. Sie finden sich in ihrer wechselseitigen Einsamkeit. Und gehen um viele Erfahrungen reicher in die Zukunft. 

"Zwischen uns das Leben" ist ein wunderbarer, zärtlicher Film mit großartigen Darstellern: Guillaume Canet als Mathieu in seiner Hilflosigkeit, seiner Orientierungslosigkeit, seiner Unsicherheit und seinen Selbstzweifeln. Noch berührender Alba Rohrwacher als Alice - verletzlich und stark zugleich, mit einer fluiden Transparenz und ungeschminkten Aufrichtigkeit. Gerade damit vermag sie Mathieu eine neue Orientierung zu geben und erhält umgekehrt von ihm die Wertschätzung, die sie so lange entbehrt hat. Ob und wie es mit den beiden nach diesen wenigen Tagen weitergeht, sei hier nicht verraten. 

Regisseur Stéphane Brizé erzählt hier "die Geschichte von zwei Menschen, die sich nicht streiten, die ein wenig erschöpft sind von den Jahren, die hinter ihnen liegen, und die nicht versuchen, einander zu verführen", sagt er in einem im Presseheft zum Film abgedruckten Interview. "Zwei Menschen, die nicht versucht haben, einander zu finden, die sich freuen, einander wiederzusehen, weil sich die Gelegenheit zufällig ergeben hat, die keinen Hass gegeneinander hegen." Der Zuschauer erfahre etwas über den Schmerz der beiden, ohne dass sie ihn sich gegenseitig zeigen. Es ist "ein Film über eine Geschichte, die zu einem Ende kommt. Keine Geschichte, die neu startet in einem Moment im Leben, in dem man sein Schutzschild ablegt. Ein Moment, in dem wir lieber ein schlechtes Gewissen riskieren würden als uns selbst davon abzuhalten, etwas zu sagen oder zu tun. Ein Moment im Leben, in dem ein Mann und eine Frau Platz für das Wesentliche machen müssen. Zwei Menschen, die sich endlich die Wahrheit sagen. Um zu bleiben, wie sie waren ... aber auch, um ein bisschen besser zu werden." 

Ein wunderbarer, sehr berührender Film. 

 

"Zwischen uns das Leben"
Regie: Stéphane Brizé
Drehbuch: Stéphane Brizé, Marie Drucker
Kamera: Sidonie Dumas
115 Minuten 
ab 1. Mai 2024 in den Kinos

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Die befreite Tochter

Das Kind eines berühmten Vaters zu sein, kann eine ziemliche Bürde sein. Und es lässt sich nur ahnen, was es bedeutet haben muss, die Tochter von Sigmund Freud zu sein. Jetzt hat sich der Tiefenpsychologe und Autor Tom Saller des Themas angenommen und einen Roman geschrieben. Darin unterstellt er Anna Freud, die nie geheiratet hat und mit der Kinderpsychoanalytikerin Dorothy Tiffany Burlingham (Tochter des Glaskünstlers und Juweliers Louis Comfort Tiffany) zusammenlebte, ein frühes Verhältnis mit einem kriegsversehrten Mann, das jedoch keine Zukunft hat, auch weil sie selbst im Rahmen einer Lernanalyse bei ihrem Vater undercover an der Behandlung des Mannes beteiligt war.

Jahre später, 1938, muss Sigmund Freud mit seiner Familie vor den Nazis fliehen, und hier spielt eben dieser ehemalige Soldat mit Namen Stadlober eine Schlüsselrolle – ist er doch inzwischen SS-Führer und Erster Vizebürgermeister der Stadt. Anna Freud verfügt über die Unterlagen, die ihn gerade in dieser Funktion kompromittieren und seine Karriere kosten könnten – die Aufzeichnungen ihres Vaters und auch ihre eigenen über seine Behandlung. Sie sind das Faustpfand, das dazu führt, dass die gesamte Familie Freud nach London ausreisen kann. Anna Freud befreit sich im Laufe ihrer eigenen beruflichen und privaten Entwicklung von ihrem Vater – auch das schildert dieser Roman. 

Das ist alles zweifellos sehr unterhaltsam und spannend aufgeschrieben. Und natürlich steht es einem Schriftsteller zu, sich fiktive Ereignisse und Begegnungen auszudenken, um einen bestimmten Sachverhalt oder die Entwicklung seiner Figuren glaubhaft zu machen. Ein Roman ist ein Roman ist ein Roman ... Zwischendurch beschleicht einen aber als Leserin auch das seltsame Gefühl, dass sich da ein Mann (der Autor) in vielleicht doch nicht ganz zulässiger Weise einer Frau (Anna Freud) bemächtigt, zwar durchaus wohlwollend-liebevoll, aber eben doch in einer übergriffigen Art und Weise. Man fragt sich auch, warum es einer solchen Konstruktion bedarf, um die genannten Themen zu bearbeiten. Und so bleibt bei allem Respekt für die schriftstellerische Virtuosität ein etwas schaler Nachgeschmack. 

Und noch eine Anmerkung am Rande: Dass der Verlag nicht in der Lage ist, eine sorgfältige Rechtschreibkorrektur zu veranlassen und die unsäglich unsinnigen Trennungen auszumerzen (z.B. Stad-lober, Stadlo-ber ...), ist mal wieder ein Zeichen für die heute leider weitverbreitete Schlampigkeit im Lektorat. 

 

Tom Saller: Ich bin Anna. 
Roman, 256 Seiten
Kanon Verlag 
24 Euro

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Nie den Mut verlieren

Michelle Bastien-Archer mit ihren beiden Kindern Paul und Kaylea Scott. (c) Across Nations
Hin und wieder kann Michelle mit ihrem Mann telefonieren – er muss dafür ein R-Gespräch aus dem Knast heraus beantragen, das natürlich mitgehört und aufgezeichnet wird. (c) Across Nations
Das Tor zum Sing-Sing-Gefängnis in der Nähe von New York. In großen Abständen können die Frauen mit ihren Männern ein Wochenende in einem Wohnwagen verbringen – kostbare Zeit der Zweisamkeit unter strikt beschränkten Bedingungen. (c) Across Nations
Michelle beteiligt sich an Protestmärschen gegen das marode Justizsystem und an den Demonstrationen von "Black Lives Matter". (c) Across Nations
Das zermürbende stundenlange Warten auf einen Anruf aus dem Gefängnis, während der Antrag auf Haftentlassung auf Bewährung verhandelt wird. (c) Across Nations
Der letzte "Junggesellinnen-Abschied", den Frauen von inhaftierten Männern feiern, wenn diese entlassen werden. Michelle ist die letzte unter ihren Freundinnen, die dieses Glück erlebt. (c) Across Nations

Es ist kein Geheimnis, dass in den USA viele Menschen, vor allem Schwarze, zu Unrecht im Gefängnis sitzen – oder zumindest keinen fairen Prozess bekommen. "Black Lives Matter" war nicht ohne Grund eine Antwort auch auf diesen Missstand. Jetzt kommt ein Dokumentarfilm in die Kinos, der sich mit diesem Thema beschäftigt. Über fast zehn Jahre hinweg hat Regisseurin Nele Dehnenkamp Michelle Bastien-Archer begleitet, deren Mann Jermaine Archer eine 22-jährige Haftstrafe in berüchtigtem Sing-Sing-Gefängnis in der Nähe von New York verbüßt. Ein Mord wurde ihm angelastet, aber es gibt massive Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Urteils. Die Beweislage war mehr als dürftig, und in der Zwischenzeit sind neue Beweisstücke aufgetaucht, die weitere Zweifel an seiner Schuld nähren und das Urteil in Frage stellen. 

"For the time being" beschreibt ebenso spannend wie bewegend, wie es sich anfühlt, einem Mann in dieser Situation nicht nur die Treue zu halten und eine Beziehung über kurze R-Gespräche und die wenigen Wochenend-Besuche in vom Gefängnis gestellten Wohnwagen zu pflegen, sondern auch nie den Mut zu verlieren, dass Jermaine vielleicht doch auf Bewährung vorzeitig entlassen wird. 

Die Regisseurin Nele Dehnenkamp sagt zu den Beweggründen für diesen Film, der in enger Zusammenarbeit mit Michelle Bastien-Archer entstanden ist: "Im Rahmen meines Soziologie-Studiums habe ich einen längeren Auslandsaufenthalt in den USA absolviert. Die Thematik der 'Masseninhaftierung' war damals sehr präsent in der öffentlichen Debatte. Man beschäftigte sich damit, wie durch Strafen und Gefängnisse die Ungleichheit in der Gesellschaft aufrechterhalten wird. Doch diese Diskussion hatte vor allem eine männliche Perspektive. Mich interessierte: Was macht es mit den zurückgebliebenen Frauen? Wie erleben Frauen und ihre Kinder die Haftstrafe ihres Partners und Vaters? Als ich dann als Gaststudentin ein Uni-Seminar zum Dokumentarfilm besuchte, war die Idee für den Film geboren." Der Film ist nun ihr Abschlussfilm im Rahmen ihres Regie-Studiums an der Filmakademie Baden-Württemberg. 

Und Michelle Bastien-Archer ergänzt aus ihrer Sicht: "Ich wollte auf das Schicksal von Frauen wie mir aufmerksam machen. Mir ist es wichtig zu zeigen, wie eine Haftstrafe das Leben der betroffenen Familien beeinflusst. Einen inhaftierten Partner zu haben, ist eine große Belastung. Und die wenigsten Menschen wissen das. Im Gegenteil: Sie haben Vorurteile gegenüber Frauen, die mit einem Mann im Gefängnis zusammen sind. Mit diesem Vorurteil wollte ich aufräumen." 

In Deutschland wird der Film u.a. auch in einzelnen Justizvollzugsanstalten gezeigt werden, um mit Betroffenen ins Gespräch zu kommen. Ebenso wurde ein Bildungspaket erstellt, das auch im Schulbereich eingesetzt werden kann. 

Wenn man an diesem Film etwas kritisieren kann, dann höchstens das, dass man relativ wenig über die Fakten erfährt, die zur Verurteilung von Jermaine geführt haben. Inzwischen, so viel wird im Presseheft mitgeteilt, wurde die Bewährung aufgehoben und er ist wieder ein freier Mann, der sich auch beruflich für eine Reform des Justizsystems einsetzt. Er und Michelle arbeiten weiterhin daran, seine Unschuld zu beweisen. Das letzte Wort dazu ist noch nicht gesprochen. 

 

For the time being
90 Minuten, Englisch mit deutschen Untertiteln 
Buch, Regie, Montage, Bildgestaltung: Nele Dehnenkamp
Produktion: Nele Dehnenkamp, Christine Duttlinger
www.forthetimebeing.de

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